Paradies

 

Paradiese lassen sich als andere Orte, als „Heterotopien“ begreifen. Foucault bezeichnete damit „utopische „Gegenräume“, die sich den Orten unserer Alltagswelt „widersetzen, sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen“. Diese „Theaterwelten“ (Florian Nelle) entwickelten sich von den barocken Schauspielen des Glaubens, der Macht und der Wissenschaft im 17. Jh. über den englischen Landschaftsgarten zu den Weltausstellungen des 19. Jh. und den Filmpalästen des 20. Jh. bis hin zu den wunderbaren Themenparks und den ausufernden Wucherungen der Einkaufscenter heute.

Damit werden die einst utopischen Orte der künstlichen Paradiese globalisiert, also auf die Welt übertragen. Aus Traum und Wahn, aus Vision und Schrei, aus Kalkül und Chaos sollen aus der inszenierten Natur des Landschaftsparks der Weltpark und andererseits aus den imaginären Räumen einer früheren überschaubaren Bilderwelt die unendlichen virtuellen Welten des Cyberspace mit seiner Subjektzentrierung und seinen sozialen Netzwerken werden.

 

Man begnügte sich im Westen nicht damit, das Paradies als ein schönes christliches Märchen anzusehen und anzuhören, sondern arbeitete aktiv daran, es ins Hier und Jetzt umzusetzen. Sowohl die Entwicklung der Technik wie auch die (höchst katastrophische) der sozialen Systeme, bis hin zu den Demokratien heute, zeigt, dass es immer zuerst Utopien, letztlich Utopien eines paradiesischen Zustands waren, die als mächtiger Motor gesellschaftlicher Umwälzungen fungierten. Diese Säkularisation der Utopie dürfte jedoch von der Religion selbst hervorgebracht worden sein. Moderne Wissenschaft und Technik tragen als Abkömmlinge der Religion nach dieser These noch Reste der einst mächtigen religiösen Utopien in sich. Nur deshalb können sie so starke real-utopische Kräfte entfalten, wie etwa die virtuellen sozialen Netzwerke a la Facebook und Twitter, die die Massen in eine permanente Bewegung hin zu „offenen Gesellschaften“ mit ihren Glücksversprechungen des Konsums, aber auch mit ihren egalitären, modernen sozialen Strukturen bewegen, wie z. B. die neuen arabischen Revolutionen zeigen.

Für die Kunst bedeutet dies eine neue „Welthaltigkeit“. Gerade als Fiktion schneidet sie gewissermaßen Komplexe aus der Welt aus und formt sie in ihr symbolisches Universum um. Da die Welt selbst schon so viele utopische Momente in dauernden Metamorphosen in sich trägt, lässt die Kunst sich natürlich nicht mehr eindimensional als fiktives Glücksversprechen gegenüber einer grundsätzlich heillosen Welt begreifen. Diesen modernen Gnostizismus kann Kunst überwinden, indem sie vielschichtige Patchwork-Welten und Patchwork-Utopien schafft.

Heribert Heere

KÜNSTLER

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