Verklärung

Raffael, Verklärung, 1520

 

Die „Transfiguration“ („Verklärung“), die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als das berühmteste Gemälde der Welt galt, wurde 1516 für die Kathedrale von Narbonne in Auftrag gegeben und war 1520 beim Tode Raffaels bis auf wenige Stellen fertig. Es sollte dort aber nie ankommen, da der Auftraggeber, Giulio di Medici, inzwischen Papst geworden war und es in Rom in einer Kirche aufstellen ließ. Heute befindet es sich in den Vatikanischen Museen in Rom.

Raffael, Studie zur Transfiguration

 

Nietzsche, der spätere Verfasser des „Antichrist“, konnte an der theologischen Lichtmetaphysik des päpstlichen Auftraggebers Raffaels wenig Gefallen finden. So moniert er das „heuchlerische“ Christentum, das man Raffael zuwies. „Das Christentum verdirbt zuletzt gar noch den Begriff des Künstlers: es hat eine schüchterne Hypocrisie (Heuchelei) über Raffael gegossen, zuletzt ist auch sein verklärter Christus ein flatterndes schwärmerisches Mönchlein, das es nicht wagt, sich nackt zu zeigen.“[6]

Vermutlich kannte Nietzsche nicht jene Studie Raffaels zur Transfiguration, die an Stelle von Christus just eine nackte „apollinische“ Jünglingsfigur zeigt, entsprechend Raffaels Verfahren, in den Entwurfszeichnungen zu seinen Kompositionen die Gestalten erst einmal nackt zu zeichnen, um sie dann in seinen Gemälden mit Pinsel und Farbe „anzuziehen“.

 

 

Mit seinem Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ provozierte und verstörte 1872 der 27jährige Basler Professor Friedrich Nietzsche die damalige Philosophie. Dort erweitert er den Deutungs-Rahmen von Raffaels „Transfiguration“, indem er dessen religiöse Thematik unter dem Begriffspaar des Dionysisch-Apollinischen interpretiert.

Transfiguratio ist die lateinische Übersetzung des griechischen metamorphosis („Verwandlung“) und hat im Christentum die Bedeutung der „Verklärung“ Christi angenommen.

Das Wahrhaft-Seiende ist für Nietzsche nicht wie bei Platon in den ewigen Ideen lokalisiert, sondern „im ewig Leidenden und Widerspruchsvollen“, wofür Heraklit Pate steht, dem sich Nietzsche immer verbunden fühlte. Dieses „ewig Leidende“ brauche zu seiner Erlösung den „lustvollen Schein, die entzückende Vision“, die allerdings gerade deshalb das „Wahrhaft-Nichtseiende“ sei, da beides, Ur-Leid und Erlösung, ein ewiges Werden darstellten, was wir als unsere Realität „empfinden genötigt sind“. Mit dieser Wendung gelingt es Nietzsche, Erlösung gleichzeitig zu dynamisieren und zu verweltlichen, indem sie eine „entzückende Vision“ einer widersprüchlichen Welt darstellt, die in ewigem Werden begriffen ist. Allerdings ist bei Heraklit von einer Erlösung nicht die Rede. Die Vorstellung der Seelenwanderung bei Pythasgoras und Platon kann nämlich nicht als „Erlösung“ interpretiert werden.

 Allerdings hatten die antiken Mysterien, z.B. die eleusinischen, den Charakter einer körperlichen und seelischen Reinigung und Erneuerung. Von einer Erlösungs-Religion wie dann im Christentum ist dies alles weit entfernt. Nietzsche zeigt sich jedoch skeptisch: “wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht misslungen sein?“[1]

Das Bildgeschehen der „Transfiguration“ hat drei Teile: die untere Hälfte mit dem besessenen Knaben, die mittlere mit den drei träumenden Aposteln und die obere mit der „visionsgleichen ambrosianischen Scheinwelt“.

Nietzsche nennt die untere Hälfte des Gemäldes, die Welt von Verzweiflung, Angst und Schmerz, „Schein“, da durch die künstlerische Figuration der eigentlich nicht darstellbare „ewige Urschmerz“ in Erscheinung tritt, der allerdings dazu als „den ewigen Widerspruch, des Vaters der Dinge“, jene obere apollinische Scheinwelt der erlösenden Verklärung braucht, ohne die er gar nicht erscheinen könnte. Als dritten Schein gibt es eine Zwischenwelt, die von den drei hingestreckten träumenden Aposteln gebildet wird, die einerseits die Vision des verklärten Christus haben und andererseits dadurch die untere Welt der Verzweiflung als Schein entlarven. [2] Mittels der „Depotenzierung des Scheins zum Schein“ wird im Kunstwerk die „schmerzhafte Urwirklichkeit“ zum realen Schein der Kunst verklärt.

Raffael galt schon zu Lebzeiten als Künstler, dessen Schöpfertum parallel zur Natur und damit fast als gottgleich angesehen wurde. Die berühmte Inschrift auf seinem Grab im Pantheon zu Rom lautet dementsprechend:

"Hier ruht Raffael, von dem die Mutter aller Dinge (die Natur) zu seinen Lebzeiten fürchtete, übertroffen zu werden, und um den sie nun, wo er tot ist, trauert."

Nach dem Evangelisten Matthäus[3] führte Christus drei seiner Jünger auf einen Berg, wo er von einem überirdischen Licht „verklärt“ wurde: „Sein Antlitz strahlte wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ Raffael verbindet in der „Transfiguration“ die Verklärung Christi mit einer anderen biblischen Szene, der Wunderheilung eines epileptischen Knaben. Diese beiden Sphären erscheinen Nietzsche in einem neuen Licht:

 

„In Raffaels Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den ratlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der „Schein“ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem , aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir in höchster Kunstsymbolik jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silens vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Notwendigkeit.“[4]

 

Die „Weisheit des Silens“ ist für Nietzsche jener, schon von Euripides übermittelter Ausspruch, dass es das Allerbeste für die Menschen, jenes „Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal“ wäre, „nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein“. Silen hat seit der antiken Kunst eine wenig schmeichelhafte Performance als betrunkener, fettleibiger Alter hingelegt, dem man dann seine andere Seite als Weisheitsvermittler und als Erzieher des kleinen Dionysos nicht mehr ansieht. Er entstammt dem alten Reich der Naturdämonen, wie die Schar der Satyrn mit ihrem Gott Pan.

 

Da der christlich inspirierte Neoplatonismus den Demiurgen als Weltschöpfer und letzte Ursache mit dem christlichen Schöpfergott identifizierte, konnte die Natur als „Mutter aller Dinge“ mit der christlichen Trinität „Vater-Sohn-Geist“ interpretiert werden. Die Idee vom Künstler als gottgleichem Schöpfer geht auf die Überlagerung der Vorstellung des christlichen Schöpfergotts mit der aristotelischen Idee einer Teleologie des Stoffs zurück. Im Stoff sei das spätere Kunstwerk laut Aristoteles, schon als Idee präfiguriert, was der Künstler-Handwerker zu entbergen habe.

Diese uns fremde antike metaphysische Vorstellung beinhaltet nichts weniger als die Überzeugung, dass „die produktive Aktivität im Kunstwerk wohnt und nicht im Künstler, der es gemacht hat.“[5]

In einem langen, Jahrhunderte dauernden Prozess entwickelte das frühe Christentum in der Auseinandersetzung zwischen Ikonoklasten und Ikonodulen (Bilderfeinden und Bilderfreunden) die Konzeption eines Kunstwerks, das um den Begriff der Inkarnation zentriert ist. So wurde die Fleischwerdung Christi in der „Fleischwerdung“ des Bildwerks repräsentiert, d.h. in der entsprechenden malerischen bzw. plastischen Gestaltung des Werks. Dabei sollte weder die archaische Bildmagie des heidnischen „Götzenbildes“ entstehen, nach dem das Bild nicht nur den Gott repräsentierte, sondern dieser selbst war – noch sollte eine bloße Phantasmagorie, ein täuschendes Trugbild, geschaffen werden.

Ob nicht die Kunst überhaupt – und die moderne Kunst im Besonderen – auch nach einer neunen Verklärung strebt? Doch entsteht damit nicht ein neuer Schein, der nicht mehr der Schein einer jenseitigen Verklärung, sondern einer diesseitigen ist?

Wenn wir schon seit langem „den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen“, wie Heinrich Heine in seinem „Deutschland, ein Wintermärchen“ dichtete und uns mit mehr oder weniger Erfolg daran gemacht haben, die irdische Welt zu verbessern, so kommen uns doch in diesem Bemühen immer mehr globale Übel in die Quere, wie Pandemien, Klimawandel, Krisenherde, soziale Schiefstlagen, Wettrüsten, Kriege etc.

 

Nietzsche hat in der „Morgenröthe“, die 1881, also knapp 10 Jahre nach der „Geburt der Tragödie“ erschien, eine „neue Transfiguration“ eingefordert: „Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, – dies sind die Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt – und auch Raffael dürfte es jetzt nicht mehr: er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.“[7]

 

Raffael hat zwei Thematiken in seinem Gemälde verbunden, einerseits die Verklärung des Gottmenschen Jesus und dadurch eine gewisse „Erlösung“, etwa von schweren Krankheiten wie in diesem Fall die Epilepsie.

Nun kann man natürlich einwenden, dass es gegen Epilepsie, also die Krankheit, an der der Knabe litt, heute Medikamente gibt, man also dafür keinen wundertätigen Erlöser brauche.

Für Nietzsche ist die Kunst das einzige Mittel, die Schrecklichkeiten und Entsetzlichkeiten des Daseins zu ertragen,[8] eben durch deren Kraft und Fähigkeit der Verzauberung und Verklärung. Diese ästhetische Theodizee – nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt[9] – ist für Nietzsche die einzige Möglichkeit, die tragisch-dionysische Welt zu überwinden und das Leben überhaupt zu ermöglichen.

Ich will damit nur andeuten, dass die Brüche und Risse, deren Wahrnehmung Walter Benjamin als „Chockcharakter“ bezeichnet[10], konstitutiv für die Moderne geworden sind. Für eine verklärende Rechtfertigung des Lebens scheint da kein Platz zu sein. Vielmehr gilt diese als eine falsche Affirmation des schlechten Bestehenden. Die utopische Dimension der Kunst bliebe dagegen, so Adorno, „ein Negatives gegen das Bestehende…Das Neue als Kryptogramm (Geheimtext) ist das Bild des Untergangs;…dass die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein könnte…“[11]

 


[1] Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 98

[2] Paul van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration, in: Roland Duhamel/Erik Oger (Hrsg.), Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst, Würzburg 1994, S. 89ff

[3] Mt 17, 1-8

[4] KSA 1, S. 39

[5] Giorgio Agamben, Archaeology of the work of art, in: Giorgio Agamben, Creation and Anarchy, Stanford 2019

[6] Fragmente…., KSA 11, S. 151

[7] M, KSA 3, 21

[8] Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 35

[9] Ibid., S. 47

[10] Walter Benjamin, Charles Baudelaire, Frankfurt 1974, S. 109

[11] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 55f

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