Versuchung des hl. Antonius

 

Antonius, einer der zahllosen Eremiten in der oberägyptischen Wüste des 4. Jahrhunderts n.Chr., die fast nichts zu sich nahmen und in antiken leeren Sarkophagen schliefen, wollte mit allen asketischen Mitteln die Imagination abtöten. Er erreichte das Gegenteil: phantastische Ungeheuer und exotische Göttinnen und Götter erschienen ihm. Alles Werke des Teufels! In dem Roman von Gustave Flaubert "Die Versuchung des hl. Antonius" treten eine wahre Flut der Göttinnen und Götter der alten Welt auf.

„Heuchler, der sich in die Einsamkeit vergräbt, um desto ungestörter seine Triebe zu befriedigen! Du verzichtest auf Fleisch, Wein, Bäder, Sklaven, Ehrungen; aber in deiner Phantasie berauscht du dich an Gelagen, Parfüms, nackten Frauen und jubelnden Mengen! Deine Keuscheit ist nur eine subtilere Art des Lasters, und deine Weltverachtung nur die Ohnmacht deines Hasses auf sie!“[1]

Diese Vorwürfe schleudert in Gustave Flauberts „Die Versuchung des heiligen Antonius“ Hilarion, eine Erscheinungsform des Teufels, dem Heiligen entgegen, der darauf in Schluchzen ausbricht. Wir sollten aber mit dem heiligen Asketen nicht zu sehr ins Gericht gehen, verdanken wir doch seinen Erscheinungen seit dem Mittelalter bis heute eine Fülle an bildgewaltigen Werken.

 

 

Was bedeuten eigentlich asketische Ideale? [2].

 

Die Lust des Triumphs über das Leiden, über die Sinnlichkeit und selbst über die Vernunft im Gefolge der Askese wäre eine Möglichkeit, die tragisch-dionysische Welt, die laut Nietzsche den Grund des Daseins ausmacht, zu überwinden. Den Willen zur Askese erkennt Nietzsche noch im abendländischen Primat der Vernunft und der Wissenschaft. Auch der unbedingte Wert der Wahrheit und das asketische Ideal scheinen ihm Bundesgenossen. Wie aber, so fragt Nietzsche, eine Alternative zum asketischen Ideal finden, damit man endlich dem „Widerwillen gegen das Leben“[3] entkomme? Das asketische Ideal mit seinem Willen zur Wahrheit ist nach Nietzsche ein Kennzeichen eines Kulturtypus, dessen Ideal der Primat der Vernunft und des Wissens ist, vermittelt durch Logik und Dialektik. Als ersten Protagonisten dieses Kulturtyps gilt ihm Sokrates, der „angesichts dieses praktischen Pessimismus (der frühen Kulturen) das Urbild des theoretischen Optimisten ist, der in dem Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrtum das Übel an sich begreift“[4]. Nietzsche wird aber nicht müde, die Vorzüge dieser sokratischen Welt herauszustellen. So seien für den sokratischen Menschen Erkenntnis von Schein und Irrtum, der Mechanismus der Begriffe, Urteile und Schlüsse, aber auch die „erhabensten sittlichen Taten“ wie Mitleid, Aufopferung, Heroismus sowie die „schwer zu erringende Heiterkeit und Daseinsseligkeit“ der „edelste, wahrhaft menschliche Beruf“.

Dennoch beruhe die sokratisch-wissenschaftliche Welt auf einem Glauben, nämlich an den des unbedingten Willens zur Wahrheit, demgegenüber „uns keine Wahl bleibt“[5]. Da aber „das Leben auf Irrtum. Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung“ angelegt sei, beruhe der Wahrheitswille auf einem „lebensfeindlichen zerstörerischen Prinzip“[6]. Nietzsche will damit ein der Wissenschaft zugrundeliegendes „moralisches“ Prinzip aufdecken, das dazu führe, dass der Wissenschaftsgläubige „eine andere Welt bejaht als die des Lebens, der Natur und der Geschichte, die an sich „unmoralisch“ seien.

„Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, genießt und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingende Enthüllung.“[7]

Demgegenüber ginge es um einen „Phänomenalismus und Perspektivismus“, um ein Bewusstsein, dass „unsere Welt eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist“, ja, dass „der zeichen-erfindende Mensch zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch“ ist.[8] Doch kann damit nicht ohne weiteres auf einen irgendwie erweiterten Begriff der Wahrheit geschlossen werden. Wenn alles Oberfläche und Zeichen ist, müssen notwendigerweise die Meister der Oberflächen, der Verstellung, der Masken, also die Schauspielerinnen und Schauspieler den moderne Typus par excellence darstellen.[9] Und in der Tat hat Nietzsche „das Problem des Schauspielers am längsten beunruhigt“[10]. Einerseits gilt dieser ihm als dekadenter anbiedernder Typus, andererseits sei gerade der dionysisch-apollinische Künstler, dessen „Artistenmetaphysik“ beinahe das Credo der „tragischen Erkenntnis“ darstellt, ein Produkt der „eingefleischten Kunst der ewigen Versteckspielens“. Die Genealogie des Künstlers wäre der „Possenreißer, Lügenerzähler, Hanswurst, Narr, Clown, Gil Blas. Denn in solchen Typen habe man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des Genies.

 


[1] Gustave Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt 1996, S. 46

[2] Friedrich Nietzsche, Was bedeuten asketische Ideale? in: F.N., Zur Genealogie der Moral, III, KSA

[3] Genealogie Moral III, 28

[4] Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Kap 15

[5] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 344

[6] Ibid.

[7] Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 15, 15-23, KSA 1, S. 98

[8] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 344

[9] In der Tat erfahren Schauspielerinnen und Schauspieler, bevorzugterweise des Films und weniger des Theaters, seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute eine Verehrung und eine (nicht nur imaginäre, sondern auch pekuniere) unerhörte Wertschätzung, wie sie Heiligen und Halbgöttinnen und -göttern wohl nie zuteil wurde.

[10] Die Fröhliche Wissenschsft, S. 361

Druckversion | Sitemap
© heereart