In Derridas Untersuchung „Die Wahrheit in der Malerei“ ist eine der wesentlichen Fokussierungen, um die der Text kreist, die Verbindung von Bild und Text. Unter Bezugnahme auf eine Zeichnung des Malers Valerio Adami spricht Derrida von „Doppelleitern“, Malerei und Text symbolisierend, die „zu nichts führen“. Dieses „Nichts der Malerei“ nimmt Michael Wetzel in „Die Wahrheit nach der Malerei“ auf:
Derrida bezieht sich mit dieser Inanspruchnahme einer dritten, und zwar transzendentalen, also ermöglichenden oder stiftenden Dimension, die in dem Maße, wie sie der Verräumlichung des Bildes und der Verzeitlichung des Textes vorausliegt, als Medium eine bloße „Gabe von Nichts“ darstellt, auf eine antike Denkfigur, die Platon auf den Begriff der „Chora“ gebracht hat.
Platon deutet im „Timaios“ den Begriff der Chora, der das Umland der antiken Stadtstaaten bezeichnete, zum Begriff des „Raumes“ um (Tim, 51e-52d). Er sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, neben dem absolut Seienden und dem ewigen Werden eine „drittes Geschlecht“ zu postulieren, eine Art Matrix, ein Medium, innerhalb dessen die Transformation des „Einen“ zum „Vielen“ stattfindet. Um die Schwierigkeit dieses Unterfangens zu verdeutlichen, drückt sich Platon dafür in einer Vielzahl von Metaphern aus:
Er spricht von einer „schwierigen und dunklen Gattung“, desgleichen bezeichnet er die Chora als „allen Werdens Aufnahme wie eine Amme“, er nennt sie das „Worin, in die die Natur alle Körper in sich aufnimmt“, den „Ausprägestoff“, das „Aufnehmende, vergleichbar der Mutter“, die „Mutter als Aufnehmerin alles gewordenen Sichtbaren und sinnlich Wahrnehmbaren“, ein „unsichtbares, gestaltloses, allempfängliches Wesen, auf irgendeine höchst unzugängliche Weise am Denkbaren teilnehmend und äußerst schwierig zu fassen“, den „Raum, Vergehen nicht annehmend, allem, dem ein Entstehen zukommt, eine Stelle gewährend, selbst aber ohne Sinneswahrnehmung nur durch ein gewisses Afterdenken erfassbar“, „kaum glaubhaft erscheinend“, die „Amme des Werdens“, das „Aufnehmende wie auch ein Werkzeug zum Erschüttern“.
Derrida dekonstruiert am Beginn seines Essays „Chora“, die seiner Meinung nach vorschnellen und konventionellen Zuschreibungen und Interpretationen der Rezeptionsgeschichte:
„Die Chora erweist sich als fremd gegenüber der Ordnung des „Urbildes“, des intelligiblen und unveränderlichen Modells. Und dennoch, obgleich sie unsichtbar ist und ohne sinnlich erkennbare Form, nimmt sie am Intelligiblen in einer äußerst verfänglichen, in Wahrheit aporetischen Weise teil…Der Diskurs über die Chora geht nicht aus dem natürlichen oder gesetzlichen Logos, sondern eher aus einer gekreuzten, bastardhaft unsauberen Gedankenführung, ja, einer, die gar verdorben ist, hervor. Diese kündigt sich an „wie in einem Traum“, was ihr ebenso gut den Scharfblick rauben wie auch ein Vermögen der Divination verleihen kann.[5]
Derrida führt hier den zentralen Begriff der Überkreuzung, des „Chiasmus“ ein, den er dann im weiteren zusätzlich mit dem des „Chasmus“ (vom Griechischen „Spalt“ „Schlund“) überkreuzt. Bei Platon stelle sich der Chiasmus als einer zwischen Mythos und Logos her, hin zu einer dritten Ordnung.
„Und wenn dieses Denken ebenfalls nach einer dritten Diskursgattung/einem dritten Diskursgeschlecht riefe. Und wenn – vielleicht wie im Fall der Chora – dieser Ruf nach der dritten Gattung/dem dritten Geschlecht nur die Zeit eines Umwegs wäre, um hinzuweisen auf ein Geschlecht jenseits des Geschlechts/eine Gattung jenseits der Gattung?“[6]
Platon fasst bekanntlich den Kosmos als ein vom Demiurgen geschaffenes Abbild (die Sinnenwelt) eines Urbildes (die Ideen) auf. Für die Möglichkeit des Abbildens führt Platon nun diese dritte Gattung, dieses dritte Geschlecht ein, eben die Chora, die „Amme des Werdens“: (Karen Gloy)
Zu demselben Resultat (der Chora) gelangt man aufgrund einer Bildanalyse, enthält doch das Bild nicht nur das Abgebildete, das auf das Urbild verweist, sondern auch das Medium, in dem abgebildet wird und das den Grund nicht nur für die Vielzahl der Abbildungen abgibt, sondern auch für die guten und schlechten Reproduktionen…Das Medium und die Darstellungsmittel (Bildträger, Malmaterialien etc.) machen das Eigensein des Bildes aus, von denen die Art und Weise der Repräsentation abhängt…Da nun der Raum bzw. der Stoff des Kosmos nichts anderes als da Eigensein des abbildenden Kosmos ist, kann er das ideelle Strukturgefüge angemessen nur wiedergeben, wenn er selbst keinerlei Form aufweist.[7]
Konsequent weitergedacht wäre nach Platon jegliche Phänomenologie in erster Linie Bildanalyse. Uns soll jedoch hier die Chora als form- und gestaltloses Medium interessieren, das als ein Drittes sowohl Intelligibles als auch Sinnliches, jedoch gleichsam als negative Kategorien, enthält, was wir auch als Gegensatz und Einheit von „Text“ (Wort, Sprache, Denken) und „Bild“ (sinnliches, unmittelbar Gegebenes) auffassen können. Die Chora stellt uns als eine verborgene, schwer aussprechbare, nur einem „Afterdenken“ zugängliche spannungsvolle Einheit von Bild und Text dar. Dafür gebraucht Wetzel in Anlehnung an Derrida die Metapher des Chiasmus:
„Eine quasi subversive Lesart der Chora dagegen , die sie von ihrer transformativen, ja transzendentalen Zäsur her versteht, kann am Chiasmus von Malerei und Text als Chora zweierlei deutlich machen, dass nämlich mit dieser nicht-linearen Struktur der für beide konstitutive Raum ihres Erscheinens eröffnet wird, und – was entscheidend für das spiegelbildliche, rivalisierende Verhältnis ist – dass in der sich überkreuzenden Struktur dieses Zwischen-Raumes zwischen Bild und Sprache das Verhältnis von Bild und Nachbild, Ursprung und Kopie als ein umkehrbares, wechselseitiges den zu besetzenden Positionen vorhergeht.“[8]
Nach Derrida tendiert die Chora schon bei Platon dazu, „das Sein zu anachronisieren“, ja „die Chora ist anachronistisch“. Sie gehört weder zur Ordnung des Eidos, des Urbildes, noch zur Ordnung der Abbilder, sie ist somit etwas, was „nicht ist“. Sie ist reines Behältnis, also nichts, was zu begreifen wäre, was man „beim Namen nennen könne“. Sie ist „kein Ding“ und gehört somit auch nicht zu den „Mannigfaltigkeiten“. Sondern stellt sich dar als „rätselhafte Einmaligkeit“. Diese subversive Deutung der Chora richtet sich auch gegen die Deutungsgeschichte, ist also in gewisser Hinsicht ahistorisch:
„Mit ihren unaufhörlichen Wiederaufnahmen, Fehlschlägen, Überbesetzungen, Überbelichtungen und Neubelichtungen wird diese Geschichte vorweg ausgestrichen, insofern sie durch Antizipation programmiert, reproduziert und reflektiert wird. Doch eine vorgeschriebene, programmierte, eine reproduktive und reflektierte Geschichte – ist das überhaupt noch eine Geschichte?“[9]
Doch auch eine Vereinnahmung der Chora durch den Mythos erscheint obsolet:
„Der mythische Diskurs kann mit dem wahrscheinlichen Bild spielen, weil die sinnliche Welt selbst Bild ist. Das sinnliche Werden ist ein Bild, ein Scheinbares und der Mythos ist ein Bild von diesem Bild. Der Demiurg hat den Kosmos nach dem Bilde des ewigen Urbildes, welches er geschaut hat, geformt. Der Logos, der sich auf diese Bilder, auf diese ikonischen Wesenheiten bezieht, muss von derselben Natur sein: bloß wahrscheinlich.“[10]
Infolgedessen eröffnet sich innerhalb des Mythos ein „Abgrund“. Damit wird aber auch der schriftliche (oder mündliche) logische Diskurs korrumpiert. Das Abgründige lässt sich genauso wenig mit einem sauberen Denken wie mit einem unsauberen Bild ausdrücken. Dies verweist jegliche Intention, man könne die Multifokalität eines Bildes durch einen Text „erklären“, in den Bereich einer hermeneutischen Fabel. Auch ein regressus ad infinitum ist auszuschließen etwa nach dem Muster: Jeder Text über ein Bild sei wieder eine Entität, die es wieder zu interpretieren gelte etc., was dann bestenfalls mit einer Super-Interpretation zu ihrem endgültigen und krönenden Abschluss käme, der nun nichts mehr hinzuzufügen ist.
Ist nicht die Figur des Chiasmus vom griechischen Buchstaben X (Chi) abgeleitet und seit jeher ein Zeichen der Vollkommenheit? Sollten wir dabei nicht auch an das vom Christentum zum Sieg über den Tod erklärten Kreuz denken, jene vielschichtige Überkreuzung?
„Und dennoch – wird nicht der Diskurs über Chora zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen, weder dem einen noch dem anderen angehörend, also weder dem Kosmos als sinnlich erfahrbarem Gott noch dem intelligiblen Gott, einen augenscheinlich leeren Raum eröffnet haben, wiewohl er zweifelsohne nicht die Leere ist.“[11]
Die Abgründigkeit wird bei Platon keinesfalls durch die Analogie der Chora mit der „Amme des Werdens“ gemildert, hat doch die Amme keinerlei „Eigentum“ am Kind.
In Anlehnung an den Bericht des Kritias im „Timaios“, wo er davon spricht, dass ihm die Erzählungen einer Alten in seiner Kindheit so geblieben sind, „als wären sie in Wachs gemalt, in Zeichen, die nicht ausgestrichen werden können“ (Tim, 26bc), kommt Derrida zu der Frage:
„Doch was stellt das vor, eine jungfräuliche Wachsschicht, stets jungfräulich, absolut vorgängig jeglichem möglichen Eindruck, stets älter, weil zeitlos als alles das, was sie zu affizieren scheint, um in ihr, die es aufnimmt, Form anzunehmen, nichtsdestoweniger und aus demselben Grund stets jünger, ein noch nicht sprechendes Kind (infante) sogar, achronisch und anachronisch, so unbestimmt, dass sie nicht einmal den Namen und die Form des Wachses zu tragen bereit ist?“[12]
Die Chora nimmt also den Charakter eines Ursprungs an und „deren Diskurs spielt für die Philosophie eine Rolle, analog zu der, welche Chora selbst spielt für dieses, wovon die Philosophie spricht, nämlich für den nach dem Urbild formierten Kosmos“(70). Deshalb gebraucht Platon dafür auch die Metapher des Traums, da er weder das Eine noch das Andere, weder wahrer logos noch unwahrer oder wahrscheinlicher Mythos ist.
[1] Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992
[2] Ibid., S. 199
[3] Michael Wetzel, Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997, S. 55
[4] Karen Gloy, Studien zur Platonischen Naturphilosophie im Timaios, Würzburg 1986, S. 78f
[5] Jacques Derrida, Chora, Wien 2005, S. 12f
[6] Ibid., S. 13
[7] Gloy, a.a.O., S. 90f
[8] Wetzel, a.a.O., S. 57
[9] Derrida, Chora, S. 26f
[10] Ibid., S. 48
[11] Ibid., S. 33
[12] Ibid., S. 54