Krise des Sinns
Zur Genealogie der Moderne gehöre die „Unversöhnlichkeit traditioneller Ästhetik und aktueller Kunst“. So Theodor W. Adorno in seiner großangelegten, posthum veröffentlichten „Ästhetischen Theorie“. „Das Unbehagen an der Kunst ist nicht nur das des stagnierenden gesellschaftlichen Bewusstseins vor der Moderne. Allenthalben greift es über auf künstlerisch Essentielles, auf die avancierten Produkte. Kunst ihrerseits sucht Zuflucht bei ihrer eigenen Negation, will überleben durch ihren Tod.“ Aber die falsche Versöhnung, die Adorno vorrangig bei der von ihm so bezeichneten „Kulturindustrie“ festmacht, ist selbst Symptom eines weit umfassenderen kulturellen Paradigmas, das Adorno als „Krise des Sinns“ überschreibt: „Der Tradition der Ästhetik, weithin auch der traditionellen Kunst gemäß, war die Bestimmung der Totalität des Kunstwerks als eines Sinnzusammenhangs. Wechselwirkung von Ganzem und Teilen soll es derart als Sinnvolles prägen, dass dadurch der Inbegriff solchen Sinns koinzidiere mit dem metaphysischen Gehalt… Aber den Kunstwerken wird es immer schwerer, sich als Sinnzusammenhang zusammenzufügen. Darauf antworten sie schließlich mit der Absage an dessen Idee. Je mehr die Emanzipation des Subjekts alle Vorstellungen vorgegebener und sinnverleihender Ordnung demolierte, desto fragwürdiger wird der Begriff des Sinns als Refugium der verblassenden Theologie… Indem die Kunstwerke unerbittlicher stets den sinnstiftenden Zusammenhang abklopfen, wenden sie sich gegen diesen und gegen Sinn überhaupt.“
Adorno bezieht sich hier auf ein Grundtheorem der traditionellen Metaphysik, das insbesondere für die Kunst bis zur Moderne konstitutiv war, nach dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Aristoteles begründet es mit der „Wesenheit“: „Indem aber das Sein gegeben und vorausgesetzt sein muss, so geht die Untersuchung offenbar darauf, weshalb der Stoff diese bestimmte Beschaffenheit hat. Z.B. weshalb ist dies ein Haus? Weil ihm das zukommt, worin die Wesenheit eines Hauses besteht…Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, dass das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist noch etwas anderes außer den Elementen.
In früherer Kunst besteht nach Adorno in „der Konfiguration der Momente des Kunstwerks“ sein Geistiges, das gerade dadurch „seine Wahrheit gegenüber jeglicher plumper Verdinglichung“ hat. Dieses Geistige der Kunst, das offensichtlich mit der aristotelischen Wesenheit gleichgesetzt werden kann, koinzidiert mit dem metaphysischen Gehalt und bildet so „den Inbegriff des Sinns“. Diesen zersetze laut Adorno die Emanzipation des Subjekts, womit die „vorgegebenen und sinnverleihenden Ordnungen“ mehr und mehr zu einer „affirmativen Lüge“ werden, insbesondere, wenn man „dem Dasein irgendeinen positiven Sinn zuschreiben“ wollte. Damit aber werde Sinn für die moderne Kunst überhaupt obsolet. Als Beispiel führt Adorno den Dadaismus und Beckett an. Letzterer trage in die traditionellen Kategorien von Kunst die abstrakte Negation von Sinn hinein, nicht durch eine Abwesenheit jeglichen Sinns, sondern durch Verhandlung über ihn.
Hält man sich die in der „Dialektik der Aufklärung“, die Adorno mit Horkheimer verfasste, entwickelte These vor Augen, wonach Aufklärung selbst in , negativ konnotierte, Mythologie umschlage, so bliebe für „avancierte Kunst“, die nicht diesem Prozess verfallen will, nur das Beharren auf der Abwesenheit jeglichen Sinns. Ein schönes Beispiel dafür liefert Christo, der nicht müde wurde, zu betonen, seine Kunst sei absolut sinnlos. Das hat aber der Popularität seiner Verpackungs-Installationen keinen Abbruch getan, ganz im Gegenteil. Adorno dürfte wohl jede Möglichkeit einer irgend gearteten Diffundierung früherer Gehalte, z.B. theologischer Natur, in neue Kunst ausgeschlossenen haben, da sie zur „affirmativen Lüge“ werden.
Ästhetische Erfahrung
Diese These ist erst vor dem Hintergrund einer in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutierten ästhetischen Problematik verstehbar, die man als "ästhetische Erfahrung" oder "Rezeptionsästhetik" bezeichnet. Ein wichtiger Aspekt dieser Diskussion besteht in der Frage nach dem Werkcharakter des Kunstwerks. Ist das Werk eine autonome Entität, das unverändert bleibt, egal, wie es wahrgenommen wird? Oder konstituiert die ästhetische Erfahrung erst das Werk und ist nicht nur eine Reaktion darauf, die von der individuellen Gefühlslage bis hin zu wissenschaftlich orientierten Deutungen reicht?
So ist z.B. die Bedeutung von Vermeer erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden. Vorher galten seine Bilder als nachrangige Beispiele für Genre-Darstellungen, wie sie es in der holländischen Malerei in großer Zahl gibt. Den Vermeer heute als einen der bedeutendsten Maler überhaupt gibt es eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert.
Andererseits haben Werke, die über die Jahrhunderte zu den Top-Gemälden überhaupt gerechnet wurden, wie Raffaels Transfiguration, den obersten Platz im Ranking abgeben müssen. Siehe dazu auch meinen Text "Verklärungen".
Pointiert könnte man sagen, dass der Werkcharakter nicht nur durch die ästhetische Erfahrung, sondern auch und vor allem durch die mehr oder weniger ausführlichen Deutungen seit ihrem Entstehen gebildet wird. Dazu gibt es eine breite Ästhetik-Diskussion, die auch weiter geführt werden wird und die ich hier aufgrund ihrer Komplexität nicht darstellen kann. Sie betrifft besonders den Autonomiestatus des Kunstwerks, der seit dem 19. Jahrhundert eine fast sakrosankte Stellung einnimmt und die zwischen "Präsenz" und "Absenz" sich bewegt. Um die Autonomie der Kunst wurden nicht nur zu Beginn der Moderne erbitterte Fehden ausgetragen. Schon der Renaissance-Maler Paolo Veronese musste sich einem kirchlichen Tribunal stellen, das sein monumentales Gemälde des Letzten Abendmals als zu wenig dem religiösen Sujet angemessen fand. Er konnte sich erfolgreich durchsetzen, musste aber den Titel in "Gastmahl im Haus des Levi" umändern. Das Gemälde selbst ist unverändert in seiner ganzen Größe und Vielfalt in der Accademia-Galerie in Venedig zu bewundern.
Ich plädiere in der heutigen Postmoderne für einen entspannteren Umgang mit der Autonomie des Werks. Selbstverständlich muss jedes Kunstwerk für sich bestehen können. Es präsentiert seine Präsenz. Sonst wäre - auch eine affektive - ästhetische Erfahrung kaum möglich. Daraus kann aber, wie bei meinen Werken, eine Bedeutungsvielfalt erwachsen, ohne die das Werk in seiner Ganzheit gar nicht erfasst wird.