"Das Bild ist immer heilig", so beginnt Jean-Luc Nancy seinem Essay "Am Grund der Bilder". Dabei betont er, dass das Heilige nicht mit dem Religiösen verwechselt werden dürfe. Vielmehr bedeute es zuerst das "Getrennte, das Ausgegrenzte, das Verschanzte". Das Distinkte (Ausgegrenzte) sei durch Markierungen getrennt, wie Brandmarkung, Stich, Einschreibung, Tätowierung. Deshalb fragt Nancy, ob die Kunst ebenda ihren Ausgang genommen habe und eben nicht primär von der Religion.
Hier blende ich Boris Groys' Theorie der partiellen Valorisierung des Profanen hin zum kulturell Wertvollen ein, was für die Kulturbildung insgesamt als auch für das Ready-made im besonderen gilt. Damit wäre auch eine Brücke geschlagen zu vormodernen Gesellschaften, in denen das kulturell Wertvolle sich mehr oder weniger mit dem Heiligen deckte, wobei das Profane, wie Eliade anmerkt, nur inselhaft im übermächtigen Religiösen existierte, so dass man damals eher das Profane als ein Ausgegrenztes zu bezeichnen hätte.
Als Valorisiertes“, Ausgegrenztes, hat das Heilige im lateinischen „sacer“ eine merkwürdige Ambivalenz zwischen erhaben und verflucht. Giorgio Agamben hat der altrömischen Figur des „Homo sacer“ eine ausführliche Untersuchung gewidmet mit frappierenden Konsequenzen zur „Biopolitik“ des neuzeitlichen Staates und zur künstlerischen Indienstnahme des „Ausnahmezustands“.
Der Homo sacer zeichnet sich im römischen Recht durch den Widerspruch aus, eine heilige Person zu sein und gleichzeitig von jedem straflos getötet werden zu können. Außerdem durfte man ihm keine Opfer bringen. Auch moderne Interpreten wie Karl Kerenyi, der hier den Tabubegriff mit seinem Doppelsinn von erhaben und verflucht ins Spiel bringt, könne nicht die Straflosigkeit der Tötung des homo sacer erklären. Deshalb kommt Agamben zu dem Schluss, dass hier ein Grenzbereich zutage tritt, der der „Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Religiösem und Politischem voraus liegt“.
Agamben verweist die Ambivalenz des Heiligen selbst in das Reich des wissenschaftlichen Mythos:
"Hier ist bereits jener Prozess der Psychologisierung von religiöser Erfahrung am Werk (der „Abscheu“ und das „Grausen“, worin das europäische Bildungsbürgertum sein Unbehagen gegenüber religiösen Tatsachen verrät), der ein paar Jahre später im Umkreis der Marburger Theologie mit dem Buch von Rudolf Otto über „Das Heilige“ (1917) seinen Abschluss fand…Dass das Religiöse vollständig in die Sphäre der psychologischen Emotion ist eine Trivialität, welcher der Neologismus „numinos“ den Anstrich von Wissenschaftlichkeit verpassen soll."
Otto beschreibt das Numinose als eine Erfahrung, die über das gewöhnliche Verständnis und die rationale Erklärung hinausgeht. Es sei das Gefühl einer höheren, unerklärlichen Macht, das grundlegend für das religiöse Erleben sei. Das Numinose selbst sei weder rational fassbar noch vollständig in Sprache auszudrücken und rufe eine Reaktion hervor, die sowohl faszinierend (fascinans) als auch erschreckend (tremendum) sei.
Dieser Aspekt des Numinosen beziehe sich auf die Anziehungskraft und das Erhabene, das religiöse Erfahrungen begleite. Es sei das, was Gläubige als göttliche Schönheit, Liebe oder Gnade empfinden können.
Im Gegensatz dazu stehe das Tremendum für die überwältigende Macht und Majestät des Göttlichen, die Furcht und Ehrfurcht auslöse. Diese Dimension betont das Überwältigende, das Unsichere und manchmal sogar Schreckliche der göttlichen Präsenz. Es ist ein Ausdruck des unüberbrückbaren Abstands zwischen dem Menschen und dem Göttlichen.
Agamben entfaltet einen vorgängigen Begriff des „heiligen Lebens“. In der Verbindung mit der Souveränität, die sowohl den Ausnahmefall wie auch das Gesetz repräsentiert, kommt er zu dem Schluss: „Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf, ist das heilige Leben…Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren“. Dieses ursprüngliche reine Leben ist jedoch nichts anderes als das „nackte Leben“, das von der Souveränität produziert werde und über das sie entsprechend verfügen kann. Als Konsequenz ergebe sich daraus, dass die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Menschenrecht gelten machen möchte, gerade von jener erst geschaffen wurde und ursprünglich „eine Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ meine.
Agamben führt nun einen Bestattungsritus der französischen Könige aber auch der römischen Kaiser an, bei dem nach dem eigentlichen Tod des Souveräns seine imago aus Wachs tagelang wie ein lebender Kranker behandelt und auch mit vollem Ritus extra bestattet wurde. Diese bildzauberische effigies (menschliches plastisches Abbild) verkörpert den tötbaren und nicht opferbaren Körper des Souveräns als homo sacer, der als Wiedergänger auf keinen Fall der profanen Welt wiedergeben werden durfte und deshalb erst als sein Doppel „weder zur Welt der Lebenden noch zur Welt der Toten gehört“. Es repräsentiert die „larva“, die sowohl ein Gesicht wie auch bezeichnenderweise ein Gespenst sein kann.
Damit hat Agamben die Grundfigur der „religiösen Kunst“ angesprochen, wie auch im damit verbundenen Komplex des „nackten Lebens“ deren politische Dimension angedeutet:
"Wenn es wahr ist, dass die Figur, die uns unsere Zeit vorsetzt, die eines nicht opferbaren Lebens ist, das dennoch in unerhörtem Maße tötbar geworden ist, dann betrifft uns das Leben des homo sacer in besonderer Weise. Die Heiligkeit ist eine noch immer präsente Fluchtlinie in der gegenwärtigen Politik; als solche bewegt sie sich in zunehmend vagere und dunklere Zonen, um schließlich mit dem biologischen Leben der Bürger selbst zusammenzufallen. Wenn es heute keine vorbestimmte Figur des homo sacer mehr gibt, so vielleicht deshalb, weil wir alle virtuell homines sacri sind.
Die Ambiguität des Bildes verdeutlichend, stellt Nancy fest, "dass das Bild ein Ding ist, das dieses Ding nicht ist". Daraus erkläre sich dessen Kraft oder Energie, dessen Stoss, dessen Intensität. Das Distinkte (des Heiligen, der Bilder und der Simulakren) bleibe am Rande der Singwelt als "Verfügungswelt". In dieser Welt stellen sich die Dinge nicht als Erscheinung dar, sondern als Kraft, nicht als Form, sondern als das Andere der Formen überhaupt. Es geht um das Intime, um die Passion des Bildes, um ihre Macht des Zwiespältigen und des Ambivalenten, weshalb Bilder in der gesamten Kultur als heilig und frivol aufgefasst würden.
Kraft dieser Ambivalenz ist das Bild bevorzugt ein Opfer in dem Doppelsinn eines Bildopfers und eines Opferbildes. Im ersten Falle muss, so Nancy, das Bild zerstört werden, um für das Heilige durchlässig zu werden. Im zweiten Fall wird das Opfer selbst als Bild verstanden und dekonstruiere sich damit selbst und mit ihm den gesamten Monotheismus. Das Bild – und damit die Kunst im allgemeinen – stehe im Herzen dieser Dekonstruktion. Nancy bezeichnet diese Leere als das "Distinkte", das jedoch (vielleicht im Gegensatz zum Heiligen) stets heterogen sei.