Nach Max Weber haben schon in frühen magischen und mythischen Kulturen Rationalisierungsprozesse aufgrund eingeschränkter Glücksmöglichkeiten zu den großen Weltreligionen mit ihrem tendenziellen Monotheismus geführt, der auch eine Aufspaltung in eine mangelhafte Diesseits-Welt und eine ideale Jenseits-Welt mit sich brachte. Er macht aber auch klar, dass die Religion auch diesseits orientiert ist, indem sie sich um die Sorgen und Nöte der Menschen auf Erden kümmert.
Nur einige wenige „Virtuosen“, um einen Ausdruck von Max Weber zu gebrauchen, konnten aus der Eschatologie, also der Lehre von den letzten Dingen, das Leben rechtfertigen bzw. es verneinen.
Das wissenschaftlich-technische Weltbild beherrscht die Lebenswelt inzwischen in globalem Maßstab, trotz allem nicht zum Schlechtesten. Die große Leerstelle ist und bleibt dabei das, was man sehr allgemein als „den Sinn des Lebens“ bezeichnet. Letzteres gelang (und gelingt) Religionen und Mythologien, auch z.T. um den Preis haarsträubender Unmenschlichkeiten. Die großen politischen Ersatz-Religionen der Neuzeit, Faschismus und Kommunismus, konnten ihren Versuch, Ersatz-Religion und -Mythologie mit moderner Wissenschaft und Technologie zusammenzubringen, nur mit immer größeren Unmenschlichkeiten realisieren bis zu ihrem Untergang.
Inzwischen scheint auch der Glaube an die eine noch verbliebene große Erzählung, nämlich die liberale demokratische, zumindest erschüttert zu sein. Dazu kommt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, dessen Ende nicht absehbar ist und der ein Teil seiner Kampagne Rußlands gegen den Westen überhaupt ist. Damit scheint eine neue große Erzählung sich zu entwickeln, die kapitalistisch und antidemokratisch ist, die euphemistisch von einigen ihrer Betreiber auch als „illiberale Demokaratie“ bezeichnet wird. Deren Protagonisten gelten die westlichen Werte gern als eine "Entledigung" der "metaphysischen Bindungen an Gott, das Vaterland und die Familie". (Viktor Orban, ungarischer Premier anlässlich der Eröffnungsfeier der olympischen Spiele in Paris Ende Juli 2024). Und das alles angesichts der Herausforderung von zwei aktuellen Technologien, nämlich der biologisch-genetischen und der künstlichen Intelligenz, die vermutlich zu einer der größten Wandlungen der Menschheitsgeschichte führen wird!
Kann man dazu die globalisierte Kunst in irgendeine Beziehung setzen?
Obgleich ich der Auffassung bin, dass in einer zunehmend laizistischen, westlichen Welt „jeder nach seiner Facon selig werden soll”, muss ich seit Jahren mit Entsetzen feststellen, dass rechte Umtriebe weit jenseits des demokratischen Spektrums immer mehr Zulauf zu gewinnen scheinen. Dies geht einher mit einem Revival unheiliger Mythen des rechten Alltags, die man vom Nazismus, der sich nicht zuletzt auf krude esoterische Mythen stützte, mehr als zur Genüge kennt. Der simple Verweis auf Rationalität und Aufklärung als Antidot gegen Neo-Faschismus erweist sich somit als unzureichend, da z.B. das nationalsozialistische Regime sich modern-rationaler Methoden bediente.
Ich hege durchaus Sympathie für die Versuche junger Intellektueller und Künstler im Umkreis von Georges Bataille und der Zeitschrift „Acephale” in den 1930er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, mit diversen obskuren Spielen die faschistischen Mythen zu konterkarieren und sie in einen humanen Welt-Mythos zu transformieren. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass es heute unter anderem im Rahmen der globalen Massen-Kultur eher möglich ist, dieses Ziel zu erreichen.
Diese neuen Mythologien könnten Vorläufer in den von Roland Barthes schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts so genannten „Mythen des Alltags“ haben, die mit der digitalen Revolution eine globale Kulturindustrie hervorbrachten, die niemand, auch Barthes nicht, so vorhersehen konnte.
Diese neuen elektronisch vermittelten Mythen sind egalitär, scheinbar unpolitisch, dank immer perfekter werdender Übersetzungsprogramme von allen rezipierbar und vor allem auch von jedem und jeder mit Hilfe der sozialen Netzwerke generierbar.
Gerade die Kunst könnte ein Mittel sein, die unübersehbaren negativen Aspekte dieser digitalen weltweiten Kommunikation wie Fake-News, digitale Hetze und -Mobbing etc. mittels ihrer eigenen Möglichkeiten wie Phantasie, Fiktion, "Wahrheit" usw. zu konterkarieren.
So kann Kunst durch ihre Fähigkeit, Emotionen und Ideen auszudrücken, ästhetische Erfahrungen zu vermitteln, Rationalität und subjektive Emotionen zu verbinden, kulturelle und soziale Bedeutungen spielerisch thematisieren und sie damit zu hinterfragen.
Keine illiberalen Demokratien, Theokratien, Autokratien oder Anarchien können letztlich solche kommunikativen künstlerischen Mächte zur Gänze zulassen, sie aber auch nicht total kontrollieren. Es klingt phantastisch, der Kunst solche Kompetenzen zuzusprechen, doch warum sollte das immer größer werdende Interesse an Kunst die Mächte und Kräfte der Kunst nicht freisetzen?