Es gibt wohl schon seit langem keine ernsthaften Adepten der antiken Religion, die noch an Zeus glauben, der auf dem Olymp seine Donnerpfeile losschleudert. Nietzsche wähnte noch die Göttin Athena leibhaftig durchs antike Athen spazierengehen. Doch die antiken Götter sind verdämmert und trotz Hölderlins Hoffnung auf deren Wiederkehr sind sie „nur“ zwischen den Buchdeckeln, auf Leinwänden, in Stein und Bronze und natürlich auf der Kinoleinwand und den Screens der Bildschirme lebendig.
Es gibt eine Menge Theorien über den Sinn dieser „Geschichten“ (so die Übersetzung von mythoi). Die bekanntesten sind wohl die extrinsische und die intrinsische Theorie. Erstere fasst die griechische Mythologie als eine Verkörperung der griechischen Welt um 1000 v. Chr. Dabei werden Heldengeschichten mit ihren Drachen- und sonstigen Ungeheuer-Tötungen (z.B. Medusa) als Widerhall einer frühen, vielleicht matriarchalen, schamanistischen Struktur und deren Unterwerfung durch die dorische patriarchale aristokratische Gesellschaft, wie wir sie aus den homerischen Epen kennen, gedeutet. Die Mythologie, die damals noch Religion war, wäre dann eine Art poetisches Geschichtsbuch, das schon lange vor ihrer schriftlichen Fixierung durch Hesiod und Homer in mündlicher Form existiert habe.
Die andere, intrinsische Form der Deutung von Mythen ist am konsequentesten von C.G. Jung vertreten worden, der in den Mythen archetypische Konstellationen des kollektiven Unbewussten sieht. Sein früherer Lehrer, Sigmund Freud, hat sich später von Jung distanziert, obwohl er selbst in „Totem und Tabu“ und vor allem in seiner Konstruktion des Ödipus-Komplexes die Basis für eine solche psychologische Erklärung des Mythos die Grundlage geliefert hat.
Ob sich damit die Faszination, die der Mythos bis heute ausübt, erklären lässt, sei dahingestellt. Wenn überhaupt, dann käme dafür höchstens die psychologische Variante in Frage, denn das Interesse für die prähistorischen Bevölkerungsverschiebungen im alten Griechenland dürfte begrenzt sein. Selbstverständlich vermitteln uns die griechische Tragödie oder die antiken Skulpturen mehr als mögliche historische Zusammenhänge. In jedem Fall kann man von vielfältigen Transformationsprozessen sprechen, die die Rezeption der Werke der Antike bis heute erfahren. Dabei geht es nicht nur um ästhetisch formale Anleihen, sondern auch um politische Repräsentation. Warum sonst hieße das politische Zentrum der USA „Kapitol“ nach dem Capitolium in Rom, dem wichtigsten Tempel des römischen Reiches?
Neue Mythologie
Mythos und Moderne – ist das nicht ein Widerspruch in sich? „Mythos versus Logos“ so lautet die Devise wie die Kritik und Antikritik sowohl des Logos wie des Mythos und machen deren Diskussion zu einer der nachhaltigsten der Moderne.
Als Auslöser dieser Debatte hat man einen kurzen Text ausgemacht, der vermutlich vom jungen Hegel, unter möglicher Mitarbeit seiner damaligen Freunde Schelling und Hölderlin, aus dem Jahre 1796/97 stammt und dem man den Titel „Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“ gegeben hat.
In diesem Text geht es um nichts Geringeres als um das „letzte und größte Werk der Menschheit“: die absolute Entfaltung des freien Menschen, die nur als Befreiung vom „technischen Räderwerk“ des Staates möglich sei. Mittel dazu sei der „höchste Akt der Vernunft“ gleichbedeutend mit einem „ästhetischen Akt“:
"Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse, und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen."
Das Organon dieses ästhetischen Aktes sei die die menschliche Einbildungskraft. Es geht den Verfassern nicht etwa nur um eine Wieder-Etablierung längst vergangener mythischer Strukturen, sondern um eine „Neue Mythologie“, eine „Mythologie der Vernunft“. Man erkennt darin sehr viel von jüngerer radikaler Vernunftkritik an der Maschinerie eines „Systems“ wieder, das die Phantasie zupflastere und zubetoniere. Demgegenüber wird der „ästhetische Akt“ als eine „organische Einheit in der unendlichen Fülle“, als die Fähigkeit zu einem „kombinatorischen und analogischen Geist“ gesehen, wie von Friedrich Schlegel gefordert.
Es geht Schlegel um das, was er das „eigentliche Kriterium der Wahrheit für die Philosophie“ nennt: „organische Einheit in der unendlichen Fülle“.
Doch, „eben im Untergang der Götter liegt die endgültige Chance des Menschen“ stellt Hans Blumenberg in seiner „Arbeit am Mythos“ fest, als deren Quintessenz er folglich die Parole „den Mythos zu Ende bringen“ ausgibt. Ausgehend von Schlegels Philosophem einer „Neuen Mythologie“, einer „Mythologie der Vernunft“ folgert Blumenberg, dass, „wenn die Hypothese an die Stelle des Mythos getreten sein sollte und Physik an die Stelle der Genealogie der Götter, der entscheidende Kunstgriff der Romantiker darin bestanden habe, die naiv scheinende Frage zu stellen: „Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen sei“, eben „eine neue Versöhnung von Poesie und Wissenschaft“. Deshalb sei die Ursprungsfrage entscheidend, als deren Kriterium er die „Bedeutsamkeit“ fasst, die durch folgende „Wirkungsmittel“ gekennzeichnet sei: Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen, Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung, Ausschließlichkeit gegen jede konkurrierende Realität.
So wäre also auch die letzte, die subtilste, die human-mythische Utopie einer Welt, „die nur als ästhetische zu rechtfertigen sei“, wie Nietzsche bemerkte, im trüben Einerlei der überbordenden Überfülle einer posthistoire untergegangen, für die alles Differente schon ausgespielt und überwunden sei?
Laut Baudrillard habe sich „die Kunst nicht in einer transzendenten Idealität abgeschafft, sondern in einer allgemeinen Ästhetisierung des Alltagslebens“. Sie sei „zugunsten einer reinen Zirkulation der Bilder in einer Transästhetik der Banalität verschwunden“. Das Verschwinden der Kunst werde gerade durch ihr üppiges Wuchern und durch das noch üppigere Wuchern des Diskurses über sie angezeigt, durch das Recycling vergangener und aktueller Formen (Neo-Geo, Neuer Expressionismus, Neue Abstraktion, Neue Figuration, Neue Romantik, Neue Schönheit…). Die postmoderne Kunst gleiche einem sich immer schneller selbst bewegenden Leben der Toten:
"Wenn die Kunst früher im Grunde nur Utopie war, d.h. sich jeder Realisierung entzog; dann ist heute diese Utopie gänzlich realisiert; dank der Medien, der Informatik, des Video ist jeder potentiell kreativ geworden…Die gesamte industrielle Maschinerie der Welt wurde ästhetisiert, die ganze Bedeutungslosigkeit der Welt wurde durch Ästhetik verklärt."
Heutige Kunst funktioniere nach den Regeln eines Ikonoklasmus: „Wie die Barockmenschen zerstören wir die Bilder nicht mehr, sondern erzeugen sie im Überfluss…auf denen es allerdings nichts mehr zu sehen gebe, Bilder ohne Spuren, ohne Schatten, ohne Folgen.“ Sowohl die Entmaterialisierung und Minimalisierung der Bilder wie auch ihre Hyperrealisierung in der Pop-Art tendierten zu einer negativen Ikone und zum Fetisch primitiver Gesellschaften. Die Postmoderne ist nun nicht „jenseits von Gut und Böse“, sondern jenseits von Hässlich und Schön: „einmal befreit von ihren wechselseitigen Zwängen, vervielfachen sie sich irgendwie: sie werden schöner als schön und hässlicher als hässlich. Die zeitgenössische Malerei kultiviert auf diese Weise nicht unbedingt die Hässlichkeit (die noch ästhetischen Wert besitzt), sondern das Hässlichere des Hässlichen („bad“, „worse“, Kitsch)…Der Wert erstrahlt trotz des fehlenden Werturteils. Das ist die Ekstase des Werts“ (Transparenz des Bösen).
Moderne Kunst als Mythos
Friedrich Voßkühler hat in einer großangelegten Untersuchung die „Kunst als Mythos der Moderne“ ausgeführt[. Damit wird jene noch vielerorts vorherrschende Meinung, moderne Kunst sei trotz ihrer Irrungen und Wirrungen antizipierender Logos im Gegensatz zum dunkeln und dunkelsten Mythos und Pseudo-Mythos, selbst in das Reich der Fabel verwiesen.
Doch, „eben im Untergang der Götter liegt die endgültige Chance des Menschen“ stellt Hans Blumenberg in seiner „Arbeit am Mythos“ fest, als deren Quintessenz er folglich die Parole „den Mythos zu Ende bringen“ ausgibt. Ausgehend von Schlegels Philosophem einer „Neuen Mythologie“, einer „Mythologie der Vernunft“ folgert Blumenberg, dass, „wenn die Hypothese an die Stelle des Mythos getreten sein sollte und Physik an die Stelle der Genealogie der Götter, der entscheidende Kunstgriff der Romantiker darin bestanden habe, die naiv scheinende Frage zu stellen: „Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen sei“, eben „eine neue Versöhnung von Poesie und Wissenschaft“. Deshalb sei die Ursprungsfrage entscheidend, als deren Kriterium er die „Bedeutsamkeit“ fasst, die durch folgende „Wirkungsmittel“ gekennzeichnet sei: Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen, Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung, Ausschließlichkeit gegen jede konkurrierende Realität.