NEUE ARCHÄOLOGIEN

 

In der westlichen Kulturgeschichte  gibt es Genealogien, die bis heute andauern und auch weiter in die Zukunft weisen. Diese Genealogien bestehen darin, dass christliche Strukturen des Mittelalters und früher wieder in der Neuzeit auftauchen, allerdings in profanierter und veränderter Gestalt, etwa im Charakter des modernen Subjekts, das nach Giorgio Agamben „seinen Ursprung in der Dreifaltigkeitstheologie und in der Lehre der Hypostasen“ habe, wovon „es sich nie wirklich emanzipiert hat“. Andere Genealogien betreffen das Nachleben bestimmter Bildkomplexe seit der Antike, wie sie etwa Aby Warburg in seinem berühmten Mnemosyne-Atlas aufgezeigt hat

"In der Ästhetik wandelt sich die scholastische „visio beatifica“ (die glückseligmachende Schau Gottes) mitsamt deren impliziter Heilserwartung zum kantischen „interesselosen Wohlgefallen“ und über romantische Adaptionen hin zu Adornos Ästhetik der Negation." postuliert Thomas Rentsch (Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee).

In der Kunst scheint diese Genealogie durch die radikalen Brüche der Frühmoderne ausgelöscht. Doch selbst für die führenden Protagonisten der Moderne wie de Chirico, Picasso, Dali oder Picabia arbeiteten manchmal nach Werken früherer Kunst. Diese sind jedoch weder Adaptionen noch Paraphrasen oder Zitate, sondern – Aneignungen.

 

Sixtina 02, 2020, Acryl/Collage

 

Solche Aneignungen bezeichne ich als „Neue Archäologien“.

 

Insbesondere erscheinen die Utopien der Avantgarde, wie sie in ihren Manifesten Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommen, vor allem in einer Überführung von Kunst ins Leben und damit in einer profanierte Form christlicher Heilserwartung, allerdings in diesseitiger Form.

In der gegenwärtigen Postmoderne ist von solchen Utopien nicht mehr viel die Rede. In Krisenzeiten wie der gegenwärtigen ist vielmehr die Dystopie angesagt.

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass der Begriff der Archäologie für künstlerische Bildwerke verwendet wird. Kunst und Wissenschaft sind sicher getrennte Bereiche, haben aber, besonders in der Moderne, gewisse Schnittmengen. So begreife ich meine Arbeiten auch als recherche, als Untersuchungen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass  Kunst ganz darin aufgeht.

Auch Kunstwerke beinhalten eine Ästhetik. Besonders in der heutigen Spätmoderne, in der sogar die in der Frühmoderne verbindlichen Anti-Normen, wie Anti-Schönheit, Anti-Werk, Anti-Kunst sich auflösen, da alles ins Hyper-Grenzenlose sich befreit hat, sollten Kunstwerke und Künstler eine Philosophie haben.

Wenn diese künstlerische recherche Kunstwerke der Vergangenheit zu ihrem Sujet, wie bei einigen hier vorgestellten, nimmt, dann ist dies immer eine schwierige Beziehung. Sie wurde meist als Widerspruch, als Gegensatz, ja als zu bekämpfender Widerpart der Moderne zur Kunst der Vergangenheit gesehen.

 

Schöpfung, 2018, High Quality Print

 

Der recherche-Charakter der Kunstwerke ist auch genau der Punkt, an dem etwas nicht nur zur Kunst-und-Theorie-Problematik, sondern zur Künstler-Theorie zu sagen wäre. Legion sind die Äußerungen – auch von Künstlern selbst – dass Künstler eigentlich zu ihrer Kunst nicht nur nichts zu sagen haben, sondern dass solche Statements auch noch kontraproduktiv seien. Man wundert sich deshalb, dass mit der Moderne eine bis heute nicht endend wollende Flut von Selbst-Kommentaren von Künstlern zu ihrem Werk anhebt.

Seit dem Beginn der Kunst vor mindestens 40.000 Jahren – so alt ist eins der frühesten Artefakte, der „Löwenmensch“ – bis zum 19. Jh. n. Chr. ist der Inhalt der Kunst eine kollektive Sache. Und dann sollte mit dem Aufkommen der einzig wahren, reinen „autonomen“, von allen äußeren „Zwängen“ befreiten Kunst das reine freie sprachlose, ort- und zeitlose Kunstwerk als Gipfel der Kunstentwicklung erstehen, höchstens noch vergleichbar dem fernen Gott der negativen Theologie, der nur in negativen Begriffen deutbar ist. Seit ihrem ersten Auftreten im frühen Christentum durch einen Anonymus namens Dionysius Aeropagita im 6. nachchristlichen Jahrhundert hat die negative Theologie nichts von ihrer Faszinationskraft verloren. Das autonome Werk enthält tendenziell, wie der absolute Gott, keine recherche, da dafür Wechsel, Veränderung, Metamorphose zentral ist. Nicht umsonst hat einer ihrer radikalsten künstlerischen Verfechter, Ad Reinhardt, mit seiner „Art-as-Art“-Doktrin als letzte Konsequenz die künstlerische Realisation des Immergleichen gefordert. 

 

Für meine Arbeit ist dagegen die Metamorphose bestimmend. Zu jedem Kunstwerk gehören essentiell nicht nur die lokale und zeitliche Einordnung – die sogar im Hinblick auf ihren Erkenntnischarakter kontraproduktiv sein kann, wie Adorno in seinem Statement angedeutet hat – sondern vor allem sein medialer Widerhall in Kommentaren, Zitaten, Aneignungen und Künstlertexten. Damit ist jedes Kunstwerk einer ständigen Veränderung unterworfen. Es gibt weder ein Wesen, eine Essenz von Kunst. Deshalb kann es auch keine, und sei sie noch so allgemein, Definition von Kunst geben. Ebenso wenig gibt es eine immer gültige, ideale und letztliche Interpretation eines Werks. Damit wird nicht nur ein weiteres Beiwerk dem scheinbar absoluten Werk hinzugefügt, was man denn auch weglassen könnte, sondern das Werk selbst verändert sich. Letzteres kann man gut an Werken ablesen, die über die Jahrhunderte immer wieder Gegenstand von verschiedensten Betrachtungen wurden, wie z.B. die Meninas von Velasquez.

 

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