„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vorder Wirklichkeit sei —: während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung indie Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an’s Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts — er muss einst kommen.“ schreibt Nietzsche emphatisch in der "Genealogie der Moral".
Selbst wenn wir uns vor Augen halten, dass sie 1887 als Streitschrift verfasst wurde und dass nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs und der menschenverachtenden Diktatur der Nazis das Bedürfnis nach dem kommenden „erlösenden Menschen“ verständlicherweise eher gering ist, müssen wir die große menschheitsgeschichtliche Bewegung gewärtigen, eine Bewegung, die Yuval Noah Harari mit dem Titel seines Bestsellers auf die kürzest mögliche Formel gebracht hat: Homo Deus. „Was andere Tiere angeht, so sind die Menschen schon lange zu Göttern geworden.“ Allerdings deuten die Erfolge neo-rechter Populisten in jüngster Zeit möglicherweise auch auf ein wachsendes krudes Erlösungsbedürfnis hin.
Nietzsches Diktum liest sich wie eine Auflistung seiner späten zentralen Ideen und Konzeptionen. Werner Stegmaier hat vorgeschlagen, die befremdliche Kennzeichnung des erlösenden Menschen „der grossen Liebe und Verachtung“ in Verbindung zum „Zarathustra“ zu bringen, der natürlich unschwer als Blaupause dieses kommenden „Antichristen und Antinihilisten“ zu erkennen ist. So lehrt Zarathustra in der Vorrede 3 den Übermenschen, „der der Sinn der Erde sei“und beschwört „seine Brüder: Bleibt der Erde treu“. Die Seele nämlich habe einst den Leib „mager, grässlich, verhungert“ gewollt und sei dabei selber „mager, gräßlich und verhungert“ geworden. Daraus entsteht nach Zarathustra „die Stunde der großen Verachtung“, da die herkömmlichen Werte sich verkehren. Das Glück wird zum Ekel, ebenso die Vernunft, die Tugend, die Gerechtigkeit und das Mitleid. Doch der Übermensch ist wie ein Meer, das diesen schmutzigen Strom in sich aufmehmen kann, ohne selbst davon tangiert zu sein. Im Zarathustra 4 tritt der „hässlichste Mensch“ auf, der durch die Leiden an Körper und Seele sogar seinen Gott sterben lässt, „da der Mensch es nicht erträgt, dass ein solcher Zeuge lebt“. Und dennoch: „Man sagt mir, daß der Mensch sich selber liebe: ach, wie groß muß diese Selber-Liebe sein! Wie viel Verachtung hat sie wider sich! Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete – ein großer Liebender ist er mir und ein großer Verächter.“