Verklärungen

Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.

Friedrich Nietzsche

 

Mit seinem Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ provozierte und verstörte 1872 der 27jährige Basler Professor Friedrich Nietzsche die damalige Philologie wie auch die Philosophie. Dort erweitert er den Deutungs-Rahmen von Raffaels „Transfiguration“, indem er dessen religiöse Thematik unter dem Begriffspaar des Dionysisch-Apollinischen interpretiert.

Die „Transfiguration“ („Verklärung“), die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als das berühmteste Gemälde der Welt galt, wurde 1516 für die Kathedrale von Narbonne in Auftrag gegeben und war 1520 beim Tode Raffaels bis auf wenige Stellen fertig. Es sollte dort aber nie ankommen, da der Auftraggeber, Giulio di Medici, inzwischen Papst geworden war und es in Rom in einer Kirche aufstellen ließ. Heute befindet es sich in den Vatikanischen Museen in Rom.

 

Transfiguratio ist die lateinische Übersetzung des griechischen metamorphosis („Verwandlung“) und hat im Christentum die Bedeutung der „Verklärung“ Christi angenommen.

 

Das Bildgeschehen der „Transfiguration“ könnte man in drei Teile zerlegen: die untere Hälfte mit dem epileptischen Knaben, die mittlere mit den drei vom göttlichen Licht geblendeten Aposteln und die obere mit der „visionsgleichen ambrosianischen Scheinwelt“. Nach dem Evangelisten Matthäus führte Christus drei seiner Jünger auf einen Berg, wo er von einem überirdischen Licht „verklärt“ wurde: „Sein Antlitz strahlte wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ Diese lichtumflossenen Verklärung Christi, das „Taborlicht“ (nach dem Berg Tabor, wo die „Transfiguration“ der Überlieferung nach statthatte), inspirierte viele christliche Mystikerinnen und Mystiker.

 

.Raffael verbindet in der „Transfiguration“ die Verklärung Christi mit einer anderen biblischen Szene, der Wunderheilung eines epileptischen Knaben.

 

 

Nietzsche nennt die untere Hälfte des Gemäldes, die Welt von Verzweiflung, Angst und Schmerz, „Schein“, da durch die künstlerische Figuration der eigentlich nicht darstellbare „ewige Urschmerz“ in Erscheinung tritt, der dazu als „den ewigen Widerspruch, des Vaters der Dinge“, jene obere apollinische Scheinwelt der erlösenden Verklärung braucht, ohne die er gar nicht erscheinen könnte. Als dritten Schein gibt es eine Zwischenwelt, die von den drei hingestreckten Aposteln gebildet wird, die einerseits die Vision des verklärten Christus haben und andererseits dadurch die untere Welt der Verzweiflung als Schein entlarven. Mittels der „Depotenzierung des Scheins zum Schein“ (Nietzsche) wird in Raffaels Werk die „schmerzhafte Urwirklichkeit“ zum realen Schein der Kunst verklärt.

 

Auf den ersten Blick besteht die „Transfiguration“ aus zwei Teilen, was Goethe richtig gesehen hat. Die drei vom göttlichen Licht geblendeten Apostel gehören eindeutig zum unteren, größeren Teil, vermitteln aber zum oberen himmlischen Bereich, den sie als einzige der Menschen wahrnehmen, allerdings nur indirekt. Die beiden schwebenden Figuren neben Christus sind rechts Moses mit den Gesetzestafeln und links der Prophet Elias. Moses empfängt bekanntlich die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai von Gott, der wiederum in einem „stillen, sanften Sausen“ auf dem Berg Horeb sich Elias durch seine Stimme zu erkennen gibt. 

 

„Die Verklärung durch das Licht und in ihm bewirkt „mit einer unwiderstehlichen, transzendenten Potenz die Ablösung des Sinnlichen im herrlichen Glanze dessen, was Platon das Intelligible nennt: oder vielmehr…nimmt letztlich die Trans-Figuration das Fleisch der Welt, der Dinge des Seins im Licht des BILDES auf sich.“ schreibt Louis Marin. Er bezeichnet weiterhin Raffaels „Transfiguration“ als „die Vision des Licht-Bildes“ auf der Leinwand und konstatiert, „dass dieses Antlitz, dieser Körper, diese Kleider Lichtwolke geworden sind, deren spürbare fleischliche Dichte in eine sich ausbreitende Wolke zerstäubt ist, wo das LICHT, die LICHT-FIGUR, das BILD opak geworden ist, zur Opazität der Wolke, ohne seine Lichttransparenz zu verlieren.“

 

Marin konstruiert dergestalt eine "Licht-Stimme“, die Bild geworden ist analog dem Vers 14 des Johannes-Evangeliums: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ Als Fazit stellt Marin fest, dass die „Verklärung“ es erlaube, diese Äquivalenz der Stimme und des Lichts zu sehen und zu hören, ohne dass es möglich wäre, die Verklärung selbst anzuschauen und zu vernehmen. Damit wird das Sichtbare auf dem Gemälde Raffaels zu einem Quid pro quo, zu einem Substitut des Unsichtbaren, wobei das eine ins andere umschlägt und vice versa. In diesem Sinne ist Goethes Feststellung der gegenseitigen Einwirkung von Unten, des „Leidenden, Bedürftigen“ und von Oben, des „Hilfreichen und Wirksamen“ der raffaelschen Szenerie zu verstehen, die Goethe zur Apotheose Fausts am Schluss von Faust II angeregt hat:

 

"Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde

Heilige Anachoreten

Pater ecstaticus (auf und abschweifend):

Ewiger Wonnebrand,

Glühendes Liebeband,

Siedender Schmerz der Brust,

Schäumende Gottes-Lust

Pfeile durchdringet mich,

Lanzen bezwinget mich

Keulen zerschmettert mich,

Blitze durchwettert mich."

 

Raffael galt schon zu Lebzeiten als Künstler, dessen Schöpfertum parallel zur Natur und damit fast als gottgleich angesehen wurde. Die Inschrift auf seinem Grab im Pantheon zu Rom lautet:

"Hier ruht Raffael, von dem die Mutter aller Dinge (die Natur) zu seinen Lebzeiten fürchtete, übertroffen zu werden, und um den sie nun, wo er tot ist, trauert."

 

 

Dagegen erscheint Raffaels „Verklärung“ Nietzsche in einem neuen profanisierten Licht:

„In Raffaels Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den ratlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der „Schein“ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir in höchster Kunstsymbolik jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silens vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Notwendigkeit.“

 

Die „Weisheit des Silens“ ist für Nietzsche jener Ausspruch des Silen, dass es das Allerbeste für die Menschen, jenes „Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal“ wäre, „nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein“. Silen hat seit der antiken Kunst eine wenig schmeichelhafte Performance als betrunkener, fettleibiger Alter hingelegt, dem man  seine andere Seite als Weisheitsvermittler und als Erzieher des kleinen Dionysos nicht mehr ansieht. Er entstammt dem alten Reich der Naturdämonen, wie die Schar der Satyrn mit ihrem Gott Pan.

 

Da der christlich inspirierte Neoplatonismus den platonischen Demiurgen als Weltschöpfer und letzte Ursache mit dem christlichen Schöpfergott identifizierte, konnte die Natur als „Mutter aller Dinge“ mit der christlichen Trinität „Vater-Sohn-Geist“ interpretiert werden. Die Idee vom Künstler als gottgleichem Schöpfer geht auf die Überlagerung der Vorstellung des christlichen Schöpfergotts mit der aristotelischen Idee einer Teleologie des Stoffs zurück. Im Stoff sei das spätere Kunstwerk, laut Aristoteles, schon als Idee präfiguriert, was der Künstler-Handwerker zu entbergen habe.

Diese uns fremde antike metaphysische Vorstellung beinhaltet nichts weniger als die Überzeugung, dass die produktive Aktivität im Kunstwerk wohnt und nicht im Künstler, der es gemacht hat.

 

 

In einem langen, Jahrhunderte dauernden Prozess entwickelte das frühe Christentum in der Auseinandersetzung zwischen Ikonoklasten und Ikonodulen (Bilderfeinden und Bilderfreunden) die Konzeption eines Kunstwerks, das um den Begriff der Inkarnation zentriert ist. So sollte die Fleischwerdung Christi in der „Fleischwerdung“ des Bildwerks, d. h. in der entsprechenden malerischen bzw. plastischen Gestaltung des Werks repräsentiert sein. Dabei durfte weder die archaische Bildmagie des heidnischen „Götzenbildes“ entstehen, nach dem das Bild nicht nur den Gott repräsentierte, sondern in gewisser Weise dieser selbst war – noch sollte ein bloßes Phantasma, ein täuschendes Trugbild, geschaffen werden. Ohne diese künstlerische Transformation der christlichen Inkarnation ab dem späten Mittelalter ist der abendländische Bildbegriff bis zur Moderne nicht zu denken.

 

Wenn wir schon seit langem „den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen“, wie Heinrich Heine in seinem „Deutschland, ein Wintermärchen“ dichtete und uns mit mehr oder weniger Erfolg daran gemacht haben, die irdische Welt nicht nur zu verbessern, sondern sie möglichst in ein Irdisches Paradies zu verwandeln, so kommen uns doch in diesem Bemühen immer mehr globale Übel in die Quere, wie Pandemien, Klimawandel, Krisenherde, soziale Schiefstlagen, Wettrüsten, Kriege und andere Katastrophen.

 

Nietzsche, der Verfasser des „Antichrist“, konnte an der theologischen Lichtmetaphysik des päpstlichen Auftraggebers Raffaels wenig Gefallen finden. So moniert er das „heuchlerische“ Christentum, das man Raffael zuwies. „Das Christentum verdirbt zuletzt gar noch den Begriff des Künstlers: es hat eine schüchterne Hypocrisie (Heuchelei) über Raffael gegossen, zuletzt ist auch sein verklärter Christus ein flatterndes schwärmerisches Mönchlein, das es nicht wagt, sich nackt zu zeigen.“

Vermutlich kannte Nietzsche nicht jene Studie Raffaels zur Transfiguration, die an Stelle von Christus just eine nackte „apollinische“ Jünglingsfigur zeigt, entsprechend Raffaels Verfahren, in den Entwurfszeichnungen zu seinen Kompositionen die Gestalten erst einmal nackt zu zeichnen, um sie dann in seinen Gemälden mit Pinsel und Farbe „anzuziehen“

 

Für Nietzsche bildet die profanierte Transfiguration Raffaels ein Gegenbild zu der für ihn als negativ empfundenen Passion Christi. So hat er in der „Morgenröthe“, die 1881, knapp 10 Jahre nach der „Geburt der Tragödie“ erschien, eine „neue Transfiguration“ eingefordert: „Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, – dies sind die Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt – und auch Raffael dürfte es jetzt nicht mehr: er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.“

 

Für Nietzsche ist die Kunst das einzige Mittel, die Schrecklichkeiten und Entsetzlichkeiten des Daseins zu ertragen, eben durch deren Kraft und Fähigkeit der Verzauberung und Verklärung. Diese "ästhetische Theodizee "– „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" – ist für Nietzsche die einzige Möglichkeit, die tragisch-dionysische Welt zu überwinden und das Leben überhaupt zu ermöglichen.

 

Das eingangs gestellte Zitat „Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.“ gehört zu den letzten schriftlichen Äußerungen Nietzsches vor seinem Zusammenbruch und seiner geistigen Umnachtung. Sie waren in Briefform an langjährige Freunde adressiert. Nietzsches Signatur „Der Gekreuzigte“ wechselt in diesen letzten Briefen mit „Dionysos“ ab und verweist einerseits auf die Ähnlichkeit von Dionysos und Christus, andererseits auf das parodistische Spiel Nietzsches mit Identitäten, das selbst in seinen letzten Zeugnissen betreibt.

 

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