In seinem Essay "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" befasst sich Friedrich Nietzsche mit den philosophischen Grundlagen von Wahrheit und Sprache.
Nietzsche beginnt mit der Prämisse, dass der menschliche Intellekt hauptsächlich dazu dient, den Menschen zu täuschen, um ihn in einer Welt voller Gefahren zu schützen. Er argumentiert, dass alles, was wir "Wissen" nennen, lediglich eine konstruierte Illusion ist – eine Sammlung von Metaphern, die so weit von der tatsächlichen Realität entfernt sind, dass sie kaum mehr als eine Form von "Lüge" darstellen.
Laut Nietzsche entstehen Konzepte und sprachliche Strukturen aus einem grundlegenden anthropomorphen Impuls heraus, die Welt um uns herum zu verstehen und zu ordnen, doch diese sind notwendigerweise fehlerhaft, da sie immer durch eine menschliche Perspektive gefiltert werden. Er sieht die Sprache selbst als unzureichendes Mittel an, um das Wesen der Dinge zu erfassen, da Worte und Begriffe nie die tatsächliche Essenz eines Objekts oder Zustands wiedergeben können.
Nietzsche vertritt die Auffassung, dass die sogenannten "Wahrheiten" nur menschliche Erfindungen sind, die durch den gesellschaftlichen Konsens als wahr angesehen werden, nicht weil sie eine objektive Realität widerspiegeln. Diese "Wahrheiten" dienen dem Zweck, die soziale Ordnung und das Zusammenleben zu erleichtern, sind aber letztlich willkürliche Setzungen.
Insgesamt kritisiert Nietzsche in seinem Essay die Annahme, dass unsere sprachlich und kulturell geformten "Wahrheiten" irgendeine tiefere, objektive Bedeutung oder Realität widerspiegeln. Er hinterfragt damit radikal die Grundlagen unserer Wahrnehmung und unseres Verständnisses von Welt.
Nietzsche sieht in der Kunst eine besondere Rolle in Bezug auf Wahrheit und Lüge. Während er in seinem Essay "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" die konventionellen Wahrheitsansprüche und die Sprache als Mittel zur Verschleierung der Realität kritisiert, nimmt die Kunst in seiner Philosophie eine einzigartige Stellung ein.
Nietzsche betrachtet die Kunst nicht nur als eine Form der Illusion oder Lüge, sondern als eine tiefere, sinnstiftende Kraft. In der Kunst sieht er die Möglichkeit, die oberflächlichen und restriktiven Grenzen der alltäglichen Wahrheiten zu überschreiten und Zugang zu einer umfassenderen und intensiveren Erfahrung der Realität zu erlangen. Für Nietzsche kann die Kunst die Widersprüche und Leiden des Lebens in Transzendenz und Schönheit verwandeln, was ihn dazu veranlasst, sie als "die wahre Theodizee" zu bezeichnen – ein Begriff, der normalerweise verwendet wird, um die Existenz von Gutem in einer Welt voller scheinbarem Übel zu rechtfertigen, was Augustinus schon dazu brachte, dem Übel keine eigenständige Existenz zuzusprechen. Stattdessen sei es ein Mangel an Gutem, sozusagen das Noch-nicht-Gute.
Nietzsches Idee stellt dagegen Kunst als eine Form der Rechtfertigung oder sogar Erklärung für das Leiden und die Unvollkommenheiten der Welt dar. Im Gegensatz zu den trügerischen Konstruktionen der sprachlich vermittelten Wahrheit, die Nietzsche kritisiert, bietet Kunst eine Form der Erkenntnis, die das Leben affirmiert (im Gegensatz zum Christentum) und ihm Sinn verleiht, selbst inmitten von Leid und Chaos. Somit erhält Kunst bei Nietzsche eine fast heilige Bedeutung, indem sie eine tiefere Wahrheit vermittelt, die über die begrenzten und fehlerhaften Versuche der Sprache hinausgeht, die Wirklichkeit zu erfassen.
Man könnte in der Tat sagen, dass Nietzsche die Kunst als eine „wahre Lüge“ betrachten würde, jedoch mit einer positiven Konnotation. Für Nietzsche offenbart Kunst, obwohl sie eine Form der Illusion oder Fiktion ist, tiefere Wahrheiten über das menschliche Dasein und die Welt, die durch konventionelle, sprachlich-begriffliche Mittel nicht zugänglich sind.
In dieser Hinsicht ist die „Lüge“ der Kunst eine schöpferische und erkenntnisbringende Kraft. Sie erschafft eine Realität, die zwar nicht im buchstäblichen Sinne „wahr“ ist, weil sie nicht faktisch existiert, aber sie trägt dennoch zur menschlichen Erfahrung bei, indem sie tiefere Einsichten in emotionale und existenzielle Zustände vermittelt. Die Kunst nutzt die Lüge, um über die Grenzen der Alltagsrealität hinauszugehen und dadurch Wahrheiten über das menschliche Leben und die menschliche Natur zu enthüllen, die anders vielleicht verborgen bleiben würden.
Insofern könnte man sagen, dass die Kunst für Nietzsche eine „wahre Lüge“ ist, da sie durch ihre ästhetische „Täuschung“ zu einem tieferen Verständnis der Welt und des menschlichen Lebens führt. Sie transzendiert die bloße Faktizität und ermöglicht es, die Welt in einem neuen inspirierenden Licht zu sehen.