Pravu Mazumdar: Der fallende Engel

Collage als Denkweise bei Heribert Heere

 

Entscheidend ist die Bewegung von oben nach unten. Mit einem Mal beginnt sich alles zu drehen und die wilde Begeisterung an der eben erklommenen Höhe verdüstert sich. Mit einem Mal lockert sich die Bindung an die Höhe und das, was gerade angekommen ist, was bereits mit dem Oben eins geworden zu sein scheint, löst sich und gravitiert von neuem in die Tiefe. Während es aber fällt, beginnt es auch auseinanderzufallen, jedoch nicht ganz, denn zwischen der himmlischen Einheit und den irdischen Vielheiten herrscht der Dämmerzustand des Halb-Einen. Das Band der Einheit lockert sich nur soweit, daß die Bruchlinien sichtbar werden und unter dem Einen sich erneut das Viele zeigt. Plötzlich erscheint der Raum zwischen oben und unten als ein Ritz, in dem das fallende Dasein insektenartig sich vermehrt. Plötzlich erscheint der Zusammenhang aus Oben und Unten als die erste Collage überhaupt, und die Horizontlinie als Fuge und Fallraum, in dem sich alles, was fällt, ins Halb-Eine der Collage verwandelt.

 

Man kann die Weise der Existenz in diesem Zwischenreich zwischen oben und unten in zwei Sätzen zusammenfassen. Alles, was fällt, ist. Alles, was ist, fällt. „Die Welt“, behauptete mal ein junger Flugzeugbauer aus Wien, „ist alles, was der Fall ist.“ Der Fall aber ist, was auf den Aufstieg folgt, weshalb der Standpunkt eines Flugzeugs auch der Standpunkt der griechischen Tragödie sein muß. Deshalb darf man den philosophierenden Flugzeugbauer tragisch mißdeuten. Sein Satz lautet jetzt: Die Welt ist alles, was sich im Fall befindet und sich im Fall offenbart. Und sie offenbart sich, indem sie im Augenblick des Falls auseinanderbricht und sich erneut zusammensetzt. Damit ist die fallende Welt aus lauter Bruchlinien zusammengesetzt. An der Schwelle ihrer Auflösung und gegen die Macht der Zeit bäumtsie sich noch einmal auf, und steigt aus dem Zusammenfluß der himmlischen und irdischen Kräfte empor wie eine archäologisch wiederhergestellte Amphora. 

 

Was also zwischen oben und unten vermittelt, ist nicht die euklidische Gesetzmäßigkeit des dreidimensionalen Raumes oder der abstrakten vertikalen Linie zwischen beiden, sondern die Dynamik des Falls. Alles, was fällt, ist so etwas wie Bote oder Kurier, dessen Kurs ein Diskurs zwischen Himmel und Erde ist. Jeder Engel ist Bote, weshalb eine Genealogie der fallenden Welt auf einen fallenden Engel führen muß. Ikarus fällt, auch Luzifer fällt. Doch geschieht der Fall des Ikarus als Wiederherstellung einer tragischen Neutralität und Meeresstille im Sinne der griechischen Gerechtigkeitsidee. Luzifer dagegen ist ein Engel, gerade indem er fällt. Deshalb ist er gewissermaßen ein Urengel. Denn der Abstieg zu den Menschen gehört durchaus zum hermeneutischen Handwerk eines jeden Engels.

 

Der Teufel ist also ein Hermes der Vertikalität. In seinem Fall schafft er Welthaftes, d.h. die sündige Würze, die zur großen Welt gehört. In seinem Fall leistet er aber auch Verständigung, denn er kennt Gott und die Welt und informiert die Menschen über Gott, nicht so sehr über seinen Willen wie seine Schwächen. Sein Fall ist die notwendige Entladung der Spannungsdifferenz zwischen Himmel und Erde.

 

Im Unterschied aber zu Hermes verbindet der fallende Engel den Krieg mit der Verständigung. Seine Fallbahn verbindet zwar die Erde mit dem Himmel. Dennoch ist es gerade dieser Fall, der ihn zum Gegengott und Feind Gottes macht. Denn das Verständnis für die Belange der Welt, namentlich der Erotik, ist eine Kriegserklärung gegen Gott.

 

Eine erste Abwandlung der Weisheit des Flugzeugbauers lautet also: Alles Fallende ist Welt.“ Das befindet sich durchaus noch in Reichweite der tragischen Erfahrung von Ikarus. Die zweite Abwandlung der genannten Weisheit lautet: „Alles Gefallene ist Welt.“ Das ist bereits Christentum. Das christliche Denken ist ein Gedankensprung, denn es macht aus einer fallenden Welt eine gefallene. Mit einem Satz springt es von der zeitlichen Schwebe eines Gerundiums ins heilsgeschichtliche Faktum eines Partizips. Zwischen den Sphären des Fallenden und des Gefallenen, in diesem intermediaire zwischen dem Christentum und dem tragischen Griechentum befindet sich die Collagekunst von Heribert Heere.

 

Deshalb muß man diese Bilder mit ihrem schmalen und hohen Format und ihrer tragisch-satanischen Zweideutigkeit als verschiedene Episoden des Falls lesen. Es sind lauter Bilder eines Zwischenreichs, durchschwirrt von den Insignien des fallenden Engels. Man sieht Teile eines gefiederten Wesens; oder ein graugrünes Gesicht mit offenem Mund und in sich versunkenem Blick, mit einer krallenartigen Hand, die zwischen den beringten Fingern zierlich einen Gegenstand hält; oder ein dunkles beflügeltes Tier im Flug durch die Zwischenräume eines Holzgerüsts; oder einfach schwarze Flecken und Schraffuren oder verdunkelte Flächen, mit denen die Grenzlinien zwischen den Collage-Fragmenten akzentuiert werden. In ihrem Zusammenhang erscheinen sie wie die Elemente eines versprengten satanologischen Ikonogramms. Tatsächlich entstammen sie einem Altarbild aus dem 16. Jahrhundert.

 

Dennoch bildet das alles nur den einen Anteil dieser Collage-Kunst. Denn die dunklen Satanismen dieser Bilder werden durch ein leuchtendes pornographisches Universum kompensiert. Ein ganzes Arsenal an Busen, Hüften, Schenkeln, an schmachtenden oder ekstatisch versunkenen Blicken sorgt dafür, daß diese Fallbilder zu Bildfallen werden, Fallen für den männlichen Blick, der, davon angelockt und angesogen, in die Falle gelockt und dadurch zu einem fallenden Blick wird, der unaufhörlich in die Nacht eines orgiastischen Abgrunds fällt. Aber dieser Fall des Betrachterblicks geschieht entlang einer zweiten Achse, nicht von oben nach unten, sondern senkrecht zur Bildoberfläche.

 

Damit haben wir ein Kreuz der Fallachsen, der Achse des fallenden Engels und der Achse des fallenden männlichen Blicks. Jedes Bild entnimmt Elemente der Männerphantasien und Fallphantasmen aus den christlich-sakralen und aktuell pornographischen Bildwelten und organisiert diese um das Fallkreuz herum, das ihm dazu dient, die männliche Perspektive des fallenden Daseins zu reflektieren. Darin, daß die Bildfragmente so verschiedenen Bildwelten entnommen und in eine collagistische Konstellation gebracht werden, liegt ein gewisser Antifreudianismus dieser Collage-Kunst: nicht die eine reale Welt verdrängt die Lustwelt von Traum und Wunsch, sondern ganz unterschiedliche Bildwelten drängen einander zurück, begrenzen einander und schaffen dadurch einen multirealen Teppich aus Weltfragmenten.

 

Diese Fragmente sind Zitate aus zwei Hauptquellen. Die satanischen Elemente sind einem Grünewald-Gemälde aus dem Isenheimer Altar entnommen. Die pornographischen Elemente stammen aus dem Internet. Damit erscheinen diese Collage-Bilder als ein Diskurs, nicht nur zwischen zwei Medien, nämlich der Malerei und dem digitalen Bildbetrieb, sondern auch zwischen zwei Jahrhunderten. Die Bild-Collage verweist damit auf zwei weitere Ebenen der Collage: der Collage der Medien und der Collage der Epochen.

 

Der schwarze Engel fällt also, fällt fortwährend, und indem sich sein Fall verlangsamt und in einem Gerundium perpetuiert, fächert er sich in zwei Welten auseinander, die Welt der traditionellen Satanologie und die Welt eines modernen Pornographismus. Doch stellt sich abschließend die Frage nach der Quelle dieser Verlangsamung. Wodurch wird der Fall gebremst und in den Schwebezustand eines fallenden Daseins gebracht, so daß sich dieses erst jetzt in seiner satanisch-pornographischen Pracht entfalten kann? Durch eine zweite Kraft, die sich immer schon der Versuchung des Falls entgegenstemmt. Es handelt sich um die Kraft des Aufstiegs zu Gott, der sich anhand asketischer Übungen vollzieht. Diese zwei Kräfte - Fall in die Tiefen der orgiastischen Nacht und Aufstieg zur Sonnenhöhe Gottes - werden im traditionellen Topos der Versuchung des heiligen Antonius zum Thema. Die kleinformatigen Bilder Heeres nehmen diesen alten Topos der Versuchung ausdrücklich auf.

 

Der asketische Aufstieg zu Gott ist nicht minder eine ekstatische Bewegung als der Fall. Das collagierte Bild flammt erst im Zusammenfluß dieser zwei ekstatischen Vektoren auf. Damit erscheint diese Kunst der Collage als eine Hemmungs- oder Retardierungsmaschine. Die Askese hemmt die Erotik, die Bildfragmente hemmen einander. Die Fugen, an denen sie aneinanderstoßen, erscheinen als Spannungsgrenzen und Orte der Entladung von Spannungsdifferenzen. Auf einmal erscheinen diese Collagen als visuelle Batterien, an deren Bildfugen sich der Blick des Betrachters entzündet. Quelle des Bildgeschehens ist und bleibt die Grenze.

 

(1999)

 

 

 

Heribert Heere

KÜNSTLER

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