Die Liebe hilft uns sterben und ewig sein zugleich. Die Liebe überfordert und überschreitet uns, sagt Heribert Heere. Sie überfordert uns, denn in der schicksalhaften Verbundenheit, die durch die Liebe entsteht, müssen wir durch den Tod gehen. Und sie überschreitet uns, weil sie uns überdauert und weil sie als einzige Zeugin über unsere Existenz zu erzählen vermag, wenn wir nicht mehr sind. In der Hingabe der Liebe sterben wir, zugleich gelangen wir durch sie in die Ewigkeit.
Heeres Collagen könnten Traumbilder sein, die aus unseren Tiefen unerwartet und ungeordnet im Raum des Bewusstseins auftauchen und mit denen wir in den ersten Augenblicken des Wachseins nichts anfangen können. Nur eines, dass sie uns mit ihrer kraftvollen inneren Spannung nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wir möchten sie unbedingt entschlüsseln, denn wir ahnen es: wir würden dann mehr über uns selbst erfahren. Und so beginnen wir das Bildinnere zu ordnen.
Wenden wir uns der Bildwelt Heeres im Einzelnen zu, so finden wir dort die großen Themen aus der Geschichte des Denkens verarbeitet. Es geht um Themen wie Liebe, Schönheit, Tod, Erotik, Ewigkeit, die insgesamt gleichsam das Material bieten, das Heere auseinanderlegt und wieder neu collagiert.
In der Reihe mit dem Titel „Tod in Venedig" – die Assoziation zu Thomas Manns Erzählung kann nicht ausbleiben – collagiert Heere schöne Models aus der Werbung, junge kraftvolle Männer- und Frauengesichter voller Leben, die als moderne Prototypen der Schönheit gelten, mit den Kulissen Venedigs, die Stadt der Träume und der Liebe.
Wo könnte die Schönheit eher zu Hause sein als in Venedig! Venedig, das ist die Stadt des Theaters; Venedig, die Stadt der Eleganz; Venedig, die Stadt der Paläste und der beflügelten Löwen als Symbole der Macht; Venedig, die Stadt der Kunst; Venedig, der Karneval eines Lebens mit vielen Gesichtern. Doch hinter den Kulissen lauert der Tod, rot wie die imperialen Vorhänge der Theaterbühnen oder tiefblau wie das Wasser, in das Venedig der Vergänglichkeit geweiht ist. Also, auch Venedig, die Stadt der Morbidität und der stinkenden Kanäle, die Stätte des Todes.
In Heeres Gemälden und Collagen verblassen die junge Frau, der schöne Mann, selbst Botticellis Venus, die Göttin der ewigen Schönheit. Dazu die venezianischen Paläste, die prunkvoll vergoldeten Kirchen, die Gemälde, die von der Sinneslust der Götter erzählen, alle irdischen Zeichen von Herrlichkeit und Macht. Die Schönheit versinkt in den Fluten der Zeit. Denn die Schönheit, die uns verführt, ist die Maske des Todes. All das, was in Erscheinung tritt, was aus der Dunkelheit farbenprächtig aufleuchtet, wird verblassen und vergehen. Denn wenn das Leben uns hat, so hat uns auch der Tod. Verführt von der Schönheit beginnen wir zu lieben und in der Hingabe der Liebe beginnen wir zu vergehen.
Einige Worte zu den Christus–Bildern:
Die vielfach vergrößerte Textur einer Buchseite scheint aus lauter Hieroglyphen zu bestehen. Es ist etwas Orakelartiges an ihr; sie erscheint wie eine Prophezeiung. Auf unserem Weg der Entschlüsselung des Bildes beginnen wir dort, wo die Farbe die Schrift nicht zu überwältigen vermag, mit forschendem Blick einige Wörter aus den überschriebenen Bildern zu lesen. Ausdrücke wie: Rundung der Brüste, Scham, Schenkel, Nymphe, Furcht, Daphne,...Hände des Typhon die Wolken berühren...,...ich zu böser Vermählung würd ich mich wandeln...All diese Wörter transportieren uns in die Mythologie, dorthin, wo unser Ursprung ist, dort wo die Prophezeiung unseres Werdens verschlüsselt liegt.
Unter der Schrift erscheint das Bild des dornengekrönten Christus, den wir in der verfremdenden Vielschichtigkeit der Farbenexplosion kaum erkennen können. In seinem Gesicht verbergen sich, genauer, hausen die Formen schöner Frauenkörper. Lust und Leid finden sich ineinander verflochten. Die Lust erscheint durch die Leiden des Todes hindurch. Sie flackert auf, sie schimmert, sie schillert in vielen ephemeren Farben. Wie ein Kaleidoskop von der vergehenden Zeit gedreht, verändern sich die Formen und Farben und gehen ineinander über, bis plötzlich die Umrisse einer anderen Gestalt klar werden und Lust und Leid in ihrer Metamorphose sichtbar werden. Bilder, die zu Leben geworden sind. Lebendige Bilder. Die Lust schimmert durch das Leid und das Leid durch die Lust. In dieser Vermählung von Lust und Leid entsteht das Erhabene.
Heribert Heeres Christus am Kreuz ist nicht mehr der gequälte, von den Wunden der Folter gezeichnete Körper Jesus’, er ist eine umrissartige, von Licht durchflutete Öffnung, durch die wir die Welt erblicken können. Er erscheint noch leuchtender durch die Nacht des Hintergrunds. Er stirbt und sein Körper verwandelt sich in Licht, um das wir durch ihn Sehende werden und... Liebende. Der Tod verwandelt sich in die Helligkeit der Liebe.
Die sonst trauernd, vom Schmerz gezeichnet dargestellte Madonna, sieht auf Heeres Pieta-Bild wie der Tod aus. Der verwundete, menschliche Leichnam Jesu hat hier sein Gesicht verloren. Sein kreideweißer Körper ist im Begriff zu zerbröckeln, und er erscheint wie eine Beute in den Krallen des Todes. Die Liebe zu ihrem toten Sohn lässt sie nicht nur leiden, sondern sterben. Liebe und Tod sind im Gesicht der Mutter Maria eins geworden. Die Liebe hat sich in den Tod verwandelt.
Heere verfremdet das uns so vertraute Bild von Maria, die ihren toten Sohn in den Armen hält, sosehr, dass er uns schockiert und wir sehnen uns danach, das vertraute Symbol wieder herzustellen. Heeres Bilder zeigen, wie die wesenhafte Liebe den Tod nicht nur bloß zulässt, sondern zum Tod wird. Jesus ist aus Liebe zu den Menschen gestorben und Maria ist aus Liebe zu ihrem Sohn gestorben. Doch der Tod bedeutet nicht das Ende. Er ist der Anfang eines ewigen Lebens.
In der Reihe der Computergrafiken mit dem Titel „Schädel“ collagiert Heere nicht verschiedene Bilder miteinander, sondern farbiges Licht mit Formen. Der Tod, der das Verfremdende an sich ist – die Quelle alles Fremdartigen – wird hier seinerseits verfremdet und zurückverfremdet ins Vertraute. Es handelt sich um so etwas wie die Aufhebung der Fremdheit durch die Doppelung der Verfremdung (der wohnliche Tod).
(2002)