Über Heribert Heeres Computergraphiken
Vortrag, gehalten am 15. Januar 2001 bei Buch Julius, Stuttgart
Zufällig trafen wir uns Anfang letzten Jahres auf einem Colloquium an der Akademie Solitude; zufällig plante auch die Buchhandlung Julius Pischl eine Kulturwoche; zufällig war die Redaktion des Journals ‘der blaue reiter’ mit der Konzeption eines Heftes zum Thema ‘Ästhetik’ befasst. Die Ergebnisse aller dieser Zufälligkeiten sehen sie nun hier nach einem Jahr nun vor sich: ein neues Heft und eine Ausstellung. Ich betone den Zufall dieser Geschehnisse, da diese mir auch im Innern der Bilder von Heribert Heere zu stecken scheinen und bei der Betrachtung der Bildern den Begriff ”Wunderkammer” eingaben. Ich möchte nicht auf den Künstler, sein Leben und Werk, eingehen, sondern versuchen zu begründen und zu erklären, was damit gemeint ist. Ich hoffe, daß die Negation der Biographie keiner weiteren Begründung bedarf, sondern aus dem Vortrag selbst hervorgeht
I
Reden über Bilder
Wie also reden über Bilder, über Kunstwerke? Was sind das für Menschen, denen man zutraut verständig und sachgerecht über Kunstwerke zu reden? Warum in Sprache verdoppeln, was jeder Betrachter der Bilder sehen kann? Hier gilt es an eine Erfahrung anzuknüpfen und zwar nicht an jener von Walter Benjamin beobachteten Enttäuschung bei Leuten in Gemäldegalerien, daß dort nur Bilder hängen, sondern an jene Erfahrung, die jedem einzelnen Betrachter vor einem einzelnen Bild in einer Gemäldegalerie widerfahren kann: Er bleibt vor einem Bild stehen und kann nicht weiter. Was ist das für eine Erfahrung, wenn für einen kurzen Moment jene solitäre Erfahrung des plötzlichen Einverstandensein mit der Welt des Bildes ihn hat? Wenn er über diese solitäre Erfahrung reden möchte - er also in einer Umkehrung des Satzes von Wittgenstein darüber reden sollte, wo man nur Schweigen kann - wenn er also jemanden fragt, ob der andere das auch sieht, was er sieht, so entspinnt sich eine Gemeinschaft aus exklusiven Paaren oder Kleingruppen, in denen über Kunstwerke geredet wird. Diese Reden über Kunstwerke verweigern sich aber der Allgemeinheit und schaffen ein elitäres Verhalten, was aber nicht weiter schlimm ist, denn auch Spekulanten, Investoren und Schmetterlingssammler verhalten sich so.
Seit es Kunstwerke gibt, wird über sie geredet. Jede Gesellschaft hielt sich Redner, also solche Menschen, die gerne über Kunstwerke reden, und verlieh ihnen manchmal auch einen Status, d.h. macht sie zu Lehrern, Kritikern oder Professoren. Man delegiert dies Reden gerne an solche, die den Eindruck zu vermitteln wissen, sie verstünden etwas mehr davon als der Rest. Im 18. Jht. wurden die Reden über Kunstwerke gern an Kenner delegiert, die über ein umfassenderes Wissen und größere Erfahrung im Umgang mit Kunstwerken zu verfügen schienen. Als die klerikalen und höfischen Kunstsammlungen im 19. Jht. öffentlich wurden, bildete sich in der bürgerlichen Gesellschaft der Gelehrte heraus, der vom hochdotierten Beamten nicht mehr zu unterscheiden war. Das Reden über Kunstwerke wurde an Kunstkritiker und Kunsthistoriker delegiert, da die Vertreter der wirtschaftlichen wie politischen Eliten, um unternehmerisch oder politisch erfolgreich zu sein, keine Zeit hatte, soviel zu sehen, wie nötig wäre, um auch nur einigermaßen den Überblick darüber zu haben, was auf einem Kunstwerk alles möglich und wahrscheinlich ist.
Doch die Gestalt des Gelehrten scheint seit dem 20. Jht. von der Gestalt des Anwenders verdrängt zu werden. Nicht mehr umfassende Kunstkennerschaft oder gesellschaftlicher Bildungsauftrag und Bildungskontrolle bestimmen die Reden über Kunstwerke, sondern die Anwendbarkeit der Kunstwerke unter den jeweiligen medialen Bedingungen einer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, was natürlich auch folgen für die Kunstwerk-produzenten, die Künstler, hatte und hat. Bei Künstlern hatten die Reden der Kunstkritiker oder Kunsthistoriker keinen guten Ruf, da sie doch irgendwie parasitär von der Arbeit der Künstler lebten. Ohne ihre Reden verschwänden die Kunstwerke nicht, aber ohne sie würde ihnen kein Deutungsprivileg mehr zugesprochen. Dieses Deutungsprivileg genießen die Kunstwerke dadurch, daß sie Symbole und Symbolzusammenhänge schaffen und aufdecken, sichtbar machen. Man stelle sich nur die Bedeutung und den Wert des Geldes in einer Gesellschaft vor, in dem auf einem Geldstück kein Adler, sondern sagen wir eine Kakerlake abgebildet wäre. Solange über Kunstwerke als Symbolproduzenten geredet wird, solange es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, daß das zurecht geschieht und weiterhin geschehen soll, wird die Gesellschaft über Kunstwerke verfügen. Größere Anforderungen an Kunstwerke zu stellen, etwa die den Sinn des Lebens aufzudecken, zur privaten Lebenskunst beizutragen oder politische Veränderungen einzuleiten, wäre vollkommen unrealistisch und kunstwerksfern.
II
techne und poesis
Auch wenn HH seine Bilder gerne in der Nähe der essentialistischen Kunstdefinition der platonischen Philosophie mit ihren sinnlich-erotischen Momenten ansiedeln und mit dem dionysischen Kunstbegriff eines Nietzsche oder mit essayistischen Vorgaben eines Klossowski, Baudrillard oder Bataille in Verbindung sehen möchte, so muß ich diesen Selbstdeutungen nicht folgen, sondern greife bei der Gliederung meiner Rede über seine Bilder auf die Antike zurück. Die Antike machte als erste Zivilisation die merkwürdige Erfahrung, daß die Vielfalt der Kulturen nicht nur horizontal, sondern auch vertikal verteilt ist, daß es nicht nur andere Zivilisationen gibt, sondern immer auch schon gab. Die Anwesenheit anderen und vergangener Zivilisationen in der existierenden, diese Unzeitigkeit und Gleichzeitigkeit, zwang dazu Reden zu entwickeln, das die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf den Begriff brachte. Vor allem Aristoteles’ Poetik zeigt am Beispiel der Tragödie - deren Göttergestalten und -geschehnisse den antiken Polisbewohnern ebenso unverständlich geworden waren, wie für uns die Zeremonien der Königshäuser oder des Vatikans – er also definierte als erster Modi des Argumentierens für Menschen, die sachgerecht über Kunstwerke reden wollen, an die ich mich im folgenden halten will: techne - das WIE des Kunstwerkes / poesis - die Herkunft und das Entstehen des Kunstwerkes / mimesis – das WAS des Kunstwerkes, die Darstellung und das Dargestellte (Themen und Motive) / katharsis - die Wirkung und Rezeption des Kunstwerkes.
Ich möchte nicht mit ästhetischen Kriterien sprechen, da sie meist auf tönernen ontologischen oder metaphysischen Annahmen aufruhen, nicht mit dem Gehalt oder der Bedeutung beginnen, sondern mit einer naiven, konventionellen Vorgehensweise. Ich möchte auch nicht mit Schlagwörtern wie Synkretismus und Manierismus die Bilder vorab zudecken und so die Kommunikation über sie abbrechen, sondern auf die Technik und Entstehung der Bilder eingehen, auf ihre techne und ihre poesis in der aristotelischer Terminologie.
Zunächst präsentieren sich die Bilder in einer Ausstellung mit Rahmen und Bildtiteln, mit Name des Künstlers und Entstehungszeit. Sie rekurrieren so auf einen Ausstellungswert der Kunstwerke, den Benjamin anhand der reproduzierenden Künste vom Kultwert der Kunstwerke schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts unter dem Eindruck der Werke des Films und der Photographie abgesetzt hat. (Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.) Sie erfüllen den Ausstellungswert voll, aber gehen doch nicht darin auf, so daß man Benjamins Analyse um einen weiteren Wert, den Anwendungswert ergänzen muß der einer Erklärung noch bedarf. Auch Begriffe wie Zitat und Collage tragen nicht, um die Bilder zu begreifen, denn sie sind an eine Avantgarde gebunden, welche die reproduzierte Welt und die Möglichkeiten der Reproduktion des vergangenen Jahrhunderts nutzte. Bei diesen Bildern handelt es sich aber nicht um reproduzierte Bilder, die zerschnitten und neu zusammengeklebt, sondern um digitalisierte Bilder, die entweder eingescannt oder aus dem Internet heruntergeladen wurden.
Auch wenn HH selbst seine Bilder als Computergraphik bezeichnet, so ist doch der Begriff Graphik irreführend, da er vom griechischen Wort graphein, dem Einritzen, dem Schreiben und Zeichnen, stammt. Nicht das Ritzen auf Stein, Ton oder Papier aber ist die entscheidende Geste bei der Entstehung der Bilder, sondern das Tasten. Nicht Hand, Papier und ein Stift leiteten die Entstehung der Bilder, sondern eine Tastatur, ein Programm und ein Monitor. Das Verbum ”tasten” bedeutet blindes Tappen in der Hoffnung, zufällig etwas zu finden. Das digitale Bild ist aber nicht das Produkt eines willkürlichen Zufalls, sondern - da der Künstler die Tasten und das Programm absichtlich wählt - eines geplanten Zufalls. Es verdankt sich der Arbeit an der Tastatur, jenem Universum von alphanumerischen Zeichen (über 45 Tasten). Diese Arbeit ist nicht wie das Zeichnen visuell, sondern taktil determiert: Jeder Druck auf eine Taste ist die Folge einer freien Entscheidung auch wenn die Bilder und ihre Veränderung von einem Programm vorgesehen sind. Der Mikrokosmos der digitalisierten Daten wird visuell erlebbar, erkennbar und behandelbar durch die Geste des Tastens. Die Daten sind weder faßbar noch sichtbar, noch begreiflich: Sie sind nicht in die Hand zu bekommen, es sei denn mit Hilfe von Vorrichtungen wie der Tastatur oder der Maus, welche in die Daten hineingreifen können. Der Druck auf eine Taste kann das unendlich Kleine, den Mikrokosmos der Daten, in menschliche Größenordnungen, aber auch ins Riesenhafte übersetzen. Ein Druck auf die Maus übersetzt aus dem Mikrokosmos der Daten in die Welt des Monitor, wo das Visuelle das Maß aller Dinge ist. Ein Druck auf einen anderen Schalter kann den Drucker in Gang setzen. Diese Vorgänge am Computer geben dem bislang christlichen gedeuteten Begriff der Erscheinung, der Epiphanie, eine neue digitale Dimension. Bei Computertastaturen ist das Schreiben und Zeichnen mittels Tastendruck ein undurchsichtiger Vorgang, ein in einer Black Box sich vollziehender Ablauf, in welchen der Tastende keine Einsicht hat. Wenn nun die Bilder am Monitor mittels Tastendruck verändert oder synthetisiert werden, dann kann man von Epiphanie (Erscheinung) oder von Wundern sprechen, dem die digitalen Bilder ihr Entstehen verdanken. Die Programme funktionieren nach dem Prinzip des Zufalls und der Notwendigkeit automatisch, doch der Druck auf die Tasten schafft die Überzeugung, dem unsichtbaren, abstrakten Mikrokosmos der Daten einen sichtbare Bedeutung und Sinn zu verleihen. So sind die digitalen Bilder nicht Hirngespinste, sondern Wunderkammern. Der Künstler tastet nicht rein zufällig, sondern er würfelt mit den ihm verfügbaren Tasten nach den Regeln eines Würfelspiels, also nicht im Sinne eines reinen, sondern eines aleatorischen Zufalls (alea = Würfel). Das Bild das am Monitor entsteht ist ein glücklicher Wurf, ein vorausgesehener Zufall. Und erst in einem zweiten Schritt entscheidet sich die Anwendung dieser nun auf dem Monitor sichtbar gewordenen Daten: ob daraus ein Druck, ein Buch, ein Plakat oder ein Bild in einer Ausstellung werden soll. Deshalb ist die Ausstellung eine nostalgische Remineszenz an die industrielle Welt, doch die Essenz der digitalen Bilder von HH liegt genau darin, daß der Mikrokosmos ihrer Daten jederzeit in verschiedene Anwendungen übergehen kann, sei es in die eines Wandbildes, in die einer Skulptur oder in die eines Plakates.
III
mimesis
Der folgende Teil hat vor, über das Dargestellte und die Darstellung zu sprechen und die digitalen Bilder von den vorangegangenen traditionellen Bildern zu unterscheiden. Es zeigt sich, daß die digitalen Bilder, diese Gespinste aus Punkten, die aus Punkten Oberflächen emportauchen lassen und in diesen Flächen eine Deutungsmacht zum Ausdruck bringen, die vor der Erfindung der Tasten unmöglich gewesen wäre.
Die digitalisierten Bilder verweisen in ihrer Bild- und Themenauswahl - unschwer sind Details aus Bildern von Bosch und Rembrandt zu erkennen - auf jene Zeit des 16./17. Jhts, die in der Kulturgeschichte als Manierismus bezeichnet und in neuerer Zeit gern mit der Postmoderne gleichgesetzt wird. Damit ist jene Kunstrichtung gemeint, welche die Möglichkeiten des Kunstschaffens ausschöpft und die vorhandenen Form- und Konstruktionsmöglichkeiten, die zur Verfügung stehen, bis zu den Grenzen auslotet. Funktionierende Steinbrüche ermöglichten Michelangelo Skulpturen zu schaffen; eine reibungslos funktionierende Pigmentherstellung garantierte, Bosch und Rembrandt ihre Bilder zu malen; die digitalen Bildtechniken - so scheint es - scheinen nun jenen Punkt erreicht zu haben, daß ihre Mittel und Möglichkeiten dem freien, aber nutzlosen künstlerischen Gebrauch zur Verfügung stehen, auch wenn die bildbearbeitenden Programme sich von Version zu Version selbst überholen mögen. Jede Technik, wenn sie funktioniert, ist schon überholt. Ihr künstlerischer Gebrauch jedoch führt in digitale Wunderkammern ein, die wie die Wunderkammern des 16./17. Jhts nicht dazu dienen auf die Suche zu gehen, sondern Funde zu machen.
Die sogenannte Postmoderne läßt sich auch als eine wiedergekehrte Prämoderne, eine Wiederkehr und Erneuerung jenes Denkens des 16./17. Jhts., das sich aus hermetischen und okkulten Traditionen herleitete, wie sie in der alexandrinisch-hellenistischen Welt, in der neoplatonischen Welt der Renaissance und in der Frühromantik der Moderne stets wieder auftauchten und weitergegeben wurden und nun in der digitalen Welt der Gleichzeitigkeit auch auf den Bildern bei Heere zu sehen ist. Um von anderen entschlüsselt werden zu können, muß sich jedes Kunstwerk auf einen den Betrachtern bekannten Bildcode stützen, auf einen hergebrachten Bildcode, was der Grund ist, warum die Computergraphiken bei aller Modernität der Herstellung auch traditionell genannt werden können. Jedes Detail auf den Computergraphiken ist ein Glied einer Bilderkette, denn stünde es nicht in der Tradition, wäre es nicht zu entziffern. Die so gespeicherten traditionellen Bilder änderten einst den Gesellschaftscode und informierten die Gesellschaft. Sie erlaubten der durch Bilder informierten Gesellschaft, immer neue Erfahrungen und Erlebnisse zu haben und zu immer neuen Wertungen und Handlungen zu gelangen. Sie unterschieden sich um ein Geringfügiges von den vorangegangenen und wurden doch nie ein Original. Sie waren stets von Texten infiziert und illustrierten Texte. Diese Fähigkeiten der traditionellen Bilder besitzen auch die digitalisierten Bilder von Heribert Heere, gehen aber weit darüber hinaus.
Der Ansatz zu einer Deutung der Bilder kann ein Zitat von Novalis sein. Er wird der Jenaer Frühromantik zugerechnet, einer jungen Generation von Literaten, die als erste mit einem funktionieren Buchmarkt und auch mit öffentlichen Kunstsammlungen groß wurde und so Erfahrungen notierte und vorwegnahm, die auch das Kunstschaffen der Moderne, allen voran der Avantgarde im 20. Jht. bestimmte.
Kommen die fremdesten Dinge durch einen Ort, eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit zusammen, so entstehen wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen - und alles erinnert an alles, wird das Zeichen vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeigerufen. (Novalis)
In diesem Zitat entdeckt man zum Beispiel eine Reihe von überraschenden Ähnlichkeiten zwischen dem neuen digitalen Ethos und dem der Frühromantik des 18. Und der Avantgarde des 20. Jht, ohne sie gleich Postmoderne nennen zu müssen. Postindustriell wäre das treffendere Wort, da sich diese Zeit ja dadurch auszeichnet, das sie weniger Versorgungsprobleme, dafür aber mehr Entsorgungsprobleme hat (z.B.: Atommüll und Elektroschrott). Diese neue aktuale Situation trifft natürlich auch auf Kunst, Musik und Literatur zu: Nach der langen Friedenszeit hat sich die Zahl der Kunstwerke ebenso vervielfacht wie die Produkte des Alltagslebens, so daß es für die Künstler weniger gilt Neues zu schaffen, sondern mehr darum geht, das Geschaffene auf seine Zerstörungs- und Bewahrungswürdigkeit hin zu prüfen. Dafür stellt der Mikrokosmos der Daten ein ideales Medium dar.
Ich glaube, daß im Blick auf die Werke von HH man von einer vergleichbaren periodischen Wiederkehr der Prämoderne sprechen und in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang deutlich machen könnte, wieviel im postindustriellen Denken dem prämodernen Denken des 16./17. Jht gleicht. Die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus, die Wiederentdeckung der Antiken Welt mit den verschiedenen alexandrinisch-hellenistischen und frühchristlichen Lehren sind die entscheidenden Erfahrungen, die im 16./17. Jht. zur Errichtung von Wunderkammern führten. Sie wurden im Kontext einer neuplatonischen Vorstellung des Universum als einer großen Kette des Seins begründet, in der Planeten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Mineralien und Metalle in komplexen, hierarchisch geordneten Korrespondenz-verhältnissen miteinander verknüpft sind. Diese Sichtweise beförderte die Überzeugung, daß jedes existierende Ding in einem gewissen Maße anderes symbolisiert oder widerspiegelt und zugleich in einem bestimmten Umfang die göttliche Einheit verkörpert, die alle Dinge überspannt. Zu diesem Weltvertrauen in die Ordnung der Welt kam noch der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen. Daher der Drang, alles zu sammeln, zu katalogisieren und zu erkunden und auch das wild wuchernde Interesse an allen Dingen. Doch dieser kulturhistorische Rahmen ist für diesen Vortrag zu groß, um ihn weiter auszuführen und so möchte ich mich auf ein Bildthema beschränken, das als Diana-Aktaion-Mythos hier zu sehen ist und zwei Interpretationen gestattet.
Der Diana-Aktaion-Mythos spielte in der Vorstellungswelt des 16./17. Jht. eine wichtige Rolle und wurde den Ovidschen Metamorphosen entnommen. Nach Ovid befindet sich Aktaion mit einer Hundemeute auf der Jagd im Wald, als er einen Blick auf die schöne Göttin des Mondes und der Jagd, Diana, erhascht, während sie mit ihren Nymphen in einer Grotte badet. Von ihrem Anblick magisch angezogen, schleicht sich Aktäon heimlich näher und wird bemerkt.
War sie auch von der Schar der begleitenden Nymphen umgeben, / stand sie doch schräg auf die Seite geneigt, nach hinten das Antlitz / beugend, und wie sie zur Hand gern hätte gehabt die Geschosse, / schöpfte sie Flut, die sie hatte zur Hand, und goß sie dem Manne über das Haupt, / und das Haar ihm bespritzend mit rächenden Wellen. / Magst du es jetzt kundtun, daß ohne Gewand du mich schautest, wenn du es kundtun kannst. / Nicht Weiteres drohend, verleiht sie seinem begossenen Haupt das Geweih zäh lebenden Hirsches.
Aktaion eilt fort und erfährt durch sein Spiegelbild in einem Bach, was mit ihm geschehen ist, sieht, wie er sich in einen Hirsch verwandelt. Sofort nehmen seine eigenen Hunde die Witterung auf und hetzen Aktaion zu Tode. Es war nicht Aktaions Absicht, Diana nackt zu sehen, und trotzdem wird er von seinen eigenen Hunden in Stücke gerissen - Parallelen zur Ödipus-Mythos sind unverkennbar.
Eine erste Interpretation kann sich auch auf das erotisch-sexuelle Momemt dieses Mythos stürzen und auf den Zusammenhang des Zerebralen (Hirn) mit dem Genitalen (Phallus). [1] Eine derartige Interpretation würde die Hörner, das Geweih in den Mittelpunkt stellen und eine Kulturgeschichte des Hornes aufzeigen. Viele antike Völker hegten den Glauben, daß Kraft und Fruchtbarkeit in Hörnern konzentriert sei, woraus sich zahlreiche Kulte erklären lassen, die der Verehrung von Stieren und Widdern dienten. Es war auch ein Symbol der Macht - so zeigt Michelangelo einen gehörnten Moses - und ein Symbol für Mercurius, das sowohl in der Alchimie und Astrologie gebraucht wird und das bis heute in Chemie und Astronomie verwendet wird: ein Kreis mit zwei Hörnern. Auch auf linguistischem und etymologischen Wege ließe sich der Zusammenhang von Hirn und Horn, von Irrsinn und Vernunft, zeigen, was aber zu weit führen würde. Aktaions Los ist, daß er in einem unglücklichen Augenblick einen unglücklichen Blick auf Diana, die auch als Glücksgöttin galt, erhascht. Und das kann jedem passieren, der zu lange und zu gebannt auf Wundererscheinungen wie digitale Bilder anstarrt.
Eine zweite Interpretation dieses Mythos könnte aber auch von den Arten des Sehens ausgehen, die der Mythos erzählt. Da ist erstens der zufällige ungewollte Blick des Jägers Aktaion auf die Göttin Diana, der zuerst von den Nymphen Dianas bemerkt wird. Dieses Sehen steht ganz im Bann von Erlaubnis und Verbot, von Verbrechen und Strafen. Es ist der moralische und politisch korrekte Blick aller Zensurbehörden in welchen politischen Gebilden auch immer. Dann gibt es zweitens den Blick des Aktaion in den Spiegel, die ihn zur (Selbst)Erkenntis der Bedeutung der Worte Dianas zwingt, so daß er dem Wahnsinn anheim fällt. Dies ist der ästhetische Blick der traditionellen Bilder, welche der Gesellschaft Deutungen anboten, was wohl Natur, Mensch oder Geschichte sei und denen – man siehe van Gogh – nur ein verrückter Künstler als ein wirklicher Künstler galt. Und dann gibt es noch drittens das Sehen jenes Lesers der Ovidschen Metamorphosen und das Sehen der Betrachter von Bildern zu diesem Mythos, einem Sehen also gewissermaßen auf zweiter Ebene, dem mit die neuen digitalen Bilder von Heere angehören. Es ist diese zweite Ebene, die Ebene der Reproduktion der Reproduktionen mit ihrer Binnenbezüglichkeit zu den traditionellen Kunstwerken. Man kann, nicht mit ihnen, sondern nur über sie kommunizieren. Diese Untauglichkeit zum Kommunikationsmittel ist aber die Voraussetzung für ihre Tauglichkeit zum Symbol, bzw. ihre Rolle im Vorgang der Beobachtung zweiter Ordnung. In der historischen Konkretion zielen diese digitalen Kunstwerke immer auf das Ganze der menschlichen Existenz durch die Zeiten hindurch, die sich in ihrer Form kundtut. Die digitale Form dieser Kunstwerke ist die Spur der Zeit in ihnen selbst. In ihrer Selbstbezüglichkeit, durch den Versuch, sich von der Zeit zu emanzipieren und überzeitliche Gültigkeit erweisen, bleiben sie zutiefst der digitalen Welt der Gegenwart verbunden.
[1] Das griechische keras (Horn) ist Kern, das lateinische cornu (Horn) ist auch gleich corona (Krone). Und das griechische keras ist auch das griechische kras, oder das lateinische cranium (Schädel, Haupt). Das griechische kratos (Oberhaupt, Machthaber) ist noch in Aristo-kratie, Demo-kratie enthalten. Der Zusammenhang zwischen Horn und Sexualität - der Sinn für das Horn, das Hörner aufsetzt - sitzt im Erbe unserer Sprachkultur. Das Wort zerebral entstammt der gleichen Sprachwurzel wie Ceres, die Göttin des Getreides und der Fruchtbarkeit, wie crescere (wachsen) und creare (erschaffen). Prähistorische Bilder vom Körper zeigen wie Kopf und Genital über das Rückgrat miteinander in Verbindung stehen: die grauen Zellen des Hirns, das Rückenmark und die Samenflüssigkeit sind die gleiche Substanz. Seelenstoff ist der Samenstoff, der Geist ist das Genital im Kopf.