Martin Weidlich

Zeigen und Verhüllen

Heribert Heeres wunderbare Bildvermehrung

 

Und umzuschaffen das Geschaffne,

Damit sich’s nicht zum Starren waffne

 

Goethe, Eins und alles

 

 

Als Heutige, Allzuheutige, bildersatt bis zum Widerwillen, unversehens wieder Appetit verspüren auf neue alte Bilder.

 

Unser so gewitztes Wiedererkennen nicht vor den Kopf gestoßen, sondern wieder und wieder geschmeichelt sehen.

Und mehr als das: Sehen.

Im Erkennen und Benennen auf das Lustvollste verunsichert sein.

 

In der unseres Nochnichttotseins uns allein versichernden Bewegung innehalten.

Ausruhn im Angesicht eines so mächtigen wie unmartialischen Heeres von Bildern, das selber nicht zappelt noch zuckt noch zetert.

Seine Gewalt erfahren, aber auf Augenhöhe.

Unsere Sinne der Verführung des Bildes aussetzen und wissen, daß dieses auf einen Sinn wartet, den wir erst ihm geben.

 

Beschenkt werden mit so gearteten Erfahrungen können wir, wenn wir uns beschenken lassen, von den Bildern Heribert Heeres.

 

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Chaos und All-Eines

 

Das Knabengesicht eines Radsportlers links im Vordergrunde, strahlend, voll jener jugendlichen Siegeszuversicht, der die Welt noch mit so viel gönnerhaftem Wohlwollen begegnet. Anstelle aber des Biker-Helmes wölben ihm sich über der Stirne, tiefblau umschattet, die Tierkreiszeichen Fisch, Wassermann, Steinbock, Schütze, Skorpion. Mit schwarzem Riemen sind sie festgezurrt an seinem Kinn, damit er ihnen nicht auskommt auf seinem wie Wespenflügel surrenden, wie Hermesschwingen schwirrenden Gefährt.

 

Und hoch über dem so schwer bekrönten, so erfrischend diesseitigen jungen Menschen aufgespannt ist gleichsam als generös sich verströmender Heiligenschein ein warmes Orange, aus dessen Höhen, von Engeln umlagert, segnend, voll gütiger Strenge, des Menschen Sohn emporragt: vertraute Ikone einer entfremdeten Christenheit.

 

Weiß glänzend die herrschaftlich-purpurne Tunika des Erlösers. Wie von innen heraus weiß leuchtend auch der faltenreiche himmelblaue Mantel, dem zu Christi Häupten ein sattes Ultramarinblau demutsvolles Echo sein will. Zum linken oberen Bildrand hin sich fortsetzend, wiederholt dieses Blau, in größerem Maßstab und der Bewohner ledig, das Zodiakussegment weiter unten: Ein bis zur Finsternis strahlender Himmel von blauer Seide, wie er über der bayerischen Hauptstadt Heimatrecht genießt? Oder Prolongation der rechts den Hintergrund abschließenden weißdurchschäumten, nur von farbigen geometrischen Körpern bevölkerten Tiefseewelt, von dieser geschieden durch die königliche Erscheinung des alchemistischen Löwen, der, rötlich und tiefschwarz überschattet, in der Bildmitte Wache hält?

 

Buchstäblich verschwimmen uns Wasser und Luft. Verschwimmen sehn wir unsere kulturell konditionierten Versuche deutlicher Scheidung von Oben und Unten. Denn vorerwähnte Tiefsee muß zugleich einem Fischkutter auf gleißender Wasseroberfläche der Himmel sein, der dessen immer ungewissen Kurs zu orientieren hat.

 

Das muntre Petri Heil, das wir der sportlich schlanken Schwester der Santa Maria und der Argo nachzurufen versucht sind, wird gar nicht erst laut und käme ohnedies niemals dort an. Lange vorher versickerte es in den gierigen Schlünden der riesigen Fische rechts im Vordergrunde, die schon Generationen von Fischern überdauert haben und auch noch sehen werden, wie jener schwankende Charonsnachen samt Besatzung endlich in den ihm bestimmten Hafen sinkt. Denn nichts anhaben können Harpune, Netz und Angelhaken diesen Augen, Schuppen, Flossen, Zähnen, Rachen von unvergänglichem, unendlich langsam nur vergänglichem Mosaikgestein, über die der Schwefelregen des Vesuvs ebenso hinwegging wie die zwanzig Jahrhunderte danach.

 

Denn weiß nicht der Fisch, unvergänglich, unwiederbringlich, von künftigem Leben? Steht er doch für jenen Menschensohn, der sterbend die Seinen losgekauft. ΙΧΤΥΣ, der Fisch, beredtes verschwiegenes Zeichen, an dem die um Seinetwillen Verfolgten die Ihren erkannten noch inmitten des römischen Flammenmeeres, dieser selbst für heutige Verhältnisse, selbst gemessen am Budget von Ben Hur, Quo vadis? und Gladiator noch sündhaft teuren Kulisse für Kunst, Sangeskunst und Saitenspiel: ІεσυςΧριστοςΤεουΎος Σωτηρ[1]. Mäuler, bald sittsam geschlossen, bald klaffend, dezent gezähnte Abgründe von Neugeburt.

 

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Wenn Bilder Oberflächen sind, immerwährend und doch in einem Augenblick uns ganz gegenwärtig, dann kann, wie am Beispiel der Collage Biker aus dem Zyklus "Himmel und Hölle" (2006) gesehen, von Heeres Bildern gelten, was Nietzsche von den Griechen der Antike gesagt hat: Sie sind „oberflächlich – aus Tiefe…“[2] Sie sind ganz Oberflächen – Feier der ewigen Gegenwart. Sie sind aber Oberflächen mit Tentakeln, so einmal der Künstler, und damit saugen sie den Betrachter mit Haut und Haaren in sich hinein. Wie eine Erzählung den Leser umgarnen und ganz umfangen kann, so daß er zeitweise die Empfindung hat, in ihr zu sein und für die Zeit der Lektüre mehr innerhalb ihrer zu leben als außerhalb, so können wir als Betrachter auch immer tiefer in den Schlünden der heereschen Bilder versinken, e il naufragar m’è dolce in questo mare. Sinkend beginnen wir, ihnen mit den Augen zu lauschen. Denn der Tradition eines zuerst literarischen Surrealismus folgend, genieren diese Bilder sich nicht zu erzählen.

 

Und sie erzählen uns von uns selbst. Geschichte und Geschichten unserer Kultur heben sie uns aus den Tiefen frischer und verschütteter Erinnerung an die Oberfläche der Sichtbarkeit, und zwar so, daß wir sie als unsere eigene Geschichte entdecken. Unsere unweigerlich in Gang kommende kulturgeschichtliche Suche wird so, angestoßen durch bruchstückhaft aufblitzendes Déjà Vu, eine ihres Kurses nie gewisse kolumbianische Entdeckungsfahrt in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, oder exakter noch: eine trockenen Fußes zu unternehmende Odyssee zu den dunklen Ursprüngen unseres Selbst.

 

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Der König der Himmel, ganz Mensch und ganz Gott, hervorgehend aus der Mitte der Tierkreiszeichen, deren Wirken mit dem Seinen, mitunter passabel harmonisiert, immer wieder in unversöhnlichem Streite liegt, von ihnen getragen und thronend über ihnen und dem Jüngling, den sie bekränzen, dabei aber der Mitte verwiesen vom Könige der Tiere, diesem Sinnbild einer ganz irdischen Stärke, die mit demütiger Duldung wenig gemein hat: Jenseitiges Heil und diesseitiges Glück – was in unendlichem Seinsverlangen einmal eins war, bald aber in wahre und falsche Wege sich verzweigte und bekriegte – in solch komplementärer, blau und orange umbrandeter Synopsis von vermeintlich Vergangnem und Gegenwärtigem darf es wieder verschmelzen zu einem Bildnis tausendfältigen Begehrens.

 

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So geben auf Heeres Collagen der schnelle Hunger und der eilige Durst sich vielfältiges Stelldichein mit anderem Verlangen, brennend, verzehrt, wüstendurstig nach einem Gaumen Pfirsichsaft aus fernem Mund (Gottfried Benn) und der Erwartung eines Reiches, das nicht von dieser Welt wäre, und im allerweitesten Sinne der Lust am Erkennen. Fragmente weiblicher und männlicher Schönheit buhlen auf American Burger um unser Auge. Oben rechts die kleine Szene, die dem Bild den Namen gibt: drei junge Männer in einem Fast-Food-Restaurant, vielleicht bei einer Karaoke-Veranstaltung, wie das Mikrophon in der Hand des mittleren und mehr noch sein Gesicht mit dem Ausdruck des empfindsamen Schnulzensängers uns nahelegt. Unterhalb dieser unverkennbar heutigen Momentaufnahme kniend ein nackter marmorner Torso männlichen Geschlechtes und in der Bildmitte, riesengroß, ein edles bärtiges Haupt, die beide ebenso klar im klassischen Altertum beheimatet sind. Links neben dem photographisch eingefangenen Klischee ‚transatlantischer Wegwerfkultur’ das feingliedrige Totenporträt einer noblen Ägypterin aus hellenistischer Zeit. Gezackt in dies Bildnis hineinragend und die Collage nach links oben abschließend der wiederum ganz heutige Auftritt einer schlanken, milchkaffeebraunen Stripperin, deren Gesicht vom gerade über den Kopf gezogenen Kleid verdeckt ist. Ihr antwortet links oben auf der Collage Die Seele aus Heeres Hölderlin-Serie zum Gedicht An die Parzen der durchaus erotische Leib eines rubensschen Christus am Kreuz, in auffallend ähnlicher Haltung und ähnlich leicht bekleidet, ebenfalls kopflos, vom Bildrand enthauptet. Keineswegs ist dieser bloß der gemarterte, beinahe schon verwesende Schmerzensmann, den Grünewald so eindrücklich dargestellt hatte. Die Seele, der im Leben / Ihr göttlich Recht nicht ward, sie ruht auch drunten / im Orkus nicht, sagt, vage unser Wissen um Christi Fahrt ins Totenreich, wo Er bekanntermaßen sich kaum ein Wochenende lang aufhielt, umspielend, eine Schrift, die gelb und klar sich unten über die linke Bildhälfte zieht, wie uns das aus dem Kino bestens vertraut ist. Text als Schriftbild, als Teil eines Bildes, dieses kommentierend und verdunkelnd, indem er möglichen Sinn, der mittelbar unseren Sinnen gegeben ist, noch breiter streut. Und das ganze Bild als ‚Text’, als überaus feinmaschiges Gewebe: Ein ‚Lesen’ erlaubt solcher Text, das vielerlei Richtungen einschlagen kann und tendenziell so wenig ein Ende findet, wie die zwei geflügelten Schlangen, die, einander in den Schwanz beißend, zum Symbol der ewig wiederkehrenden nimmer endenden Zeit geworden sind.[3]

 

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Eine wichtige Aufgabe hat in den coniunctiones oppositorum[4], als welche wir Heeres Collagen lesen, die Übermalung. Hell leuchtende Pinselstriche verdunkeln gnädig die Brüche zwischen dem Nichtzueinanderstimmenden, das Künstler-Gewaltsamkeit hier zusammenzwang. Die Brüche verlieren ihre Härte, ja, beinahe verschwinden sie. Den Farben, unter denen sie verheilen, sprechen wir alchemistische Kräfte zu. Unüberbrückbar Geschiedenes läßt Übermalung sanft ineinandergleiten, um einer stets sich wandelnden, vervollkommnenden Natur es gleichzutun. Was aber diese nur in Jahren und Jahrtausenden zu Wege bringt, sehen wir auf Heeres Collagen in einem Augenblick verwirklicht. Denken wir uns verfremdende Übermalung einmal als Vorhang eines Tempels, wie er leitmotivisch auf den Bildern der metaphysischen Phase Giorgio de Chiricos wiederkehrt, Requisit einer in schamhafte Verschleierung versponnenen Offenbarung. So läßt etwa Arnulf Rainers Übermalung sakraler Bilder als von oben an bis unten aus zerreißender Tempelvorhang deren hinter habitueller Rezeption verborgene, urplötzlich aufflackernde Wahrheit den Betrachter blenden. Solcher Bildersturm indes, der noch einen Zipfel vom Mantel Gottes zu erhaschen sucht, ist Heribert Heere fremd: Als skeptischer Mystiker bringt er vielmehr, mit alten und neuen Götzenbildern im Bunde, diese zueinander in lustigen Wettstreit. So geben seine Tempelvorhänge, in mediterranen Abendwinden sich bauschend, magmagleich zusammenfließend, eingefroren inmitten der Bewegung, immer wieder den Blick auf jene Bühne frei, auf welcher – als das allein uns zugängliche Wahre und als allerorten zugängliche Ware – die Trugbilder Hydrenköpfen gleich sich mehren, rivalisieren und sympathisieren: gebändigt und losgelassen in tausendundeinem Bildnisse des Begehrens.

 

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Kompositorische Einheit in der Farbtonart verleiht Übermalung auch vielen weiteren Collagen desselben Zyklus. Gelbe Fluten überirdischen Lichtes umhüllen auf dem Bild Chinese Girl ein disparates Ensemble: Oben die Köpfe eines lachenden jungen Mädchens ostasiatischen Typs, einer etwa gleichaltrigen, rot angestrahlten Europäerin und des dornengekrönten, blutenden Abgottes Leonardo Di Caprio – letzterer außerdem rund um die Krönungsszene in verkleinerter Form vervielfältigt, halbnackt auf Leopardenfell, angetan mit einer blutroten Krawatte als Galgenstrick: Der Gott, das angebetete Tier, festlich fürs Opfer bereitet. Darunter Bruchstücke (1) schauerlicher Höllenpein aus einem mittelalterlichen Jüngsten Gericht, (2) einer vom Beato Angelico gemalten Hafenszene aus dem Leben des Heiligen Nikolaus, der durch Glaubensstärke und Geschick im Verhandeln mit den Getreideschiffern die Stadt Myra vor dem Hungern bewahrt, und (3) eines fern dem kalten Norden photographierten üppigen umfriedeten Gartens, das ist verdolmetscht ؛راڍ س, pārādaise! Auf Pompeji wiederum erfährt das prächtige Orangerot eines altmeisterlichen Faltenwurfes den Bildrändern zu mandarinenfarbene Fortsetzung in mehrfach durchbrochner Umrahmung. Zur Mitte hingegen bekommt dieser königliche Madonnenmantel sein blutrotes Pendant in einem schweren, glänzenden Stoff, der den peterskirchenkuppelgleich gewölbten Busen eines unter verschiedenerlei Abdeckung deutlich nackten Mädchens im Profil betont, indem er ihn verhüllt. Dies Blutrot als authentisches ‚Theaterrot’ verlängert einen Vorhang, zwischen dessen Ritzen ein anderes Idol der Popkultur, David Bowie, irr und blauäugig, inmitten blauäugiger, irrer Puppenmasken hervorstarrt ; verlängert zudem nach oben die Kontur eines überzeugend die Seligkeit des geistig Armen vorstellenden Puppengesichtes in das darüber gelegene Architekturdetail aus ionischem Säulenkapitell und schwarzgähnendem Tor hinein.

 

Diese freilich raschen Blicke auf wenige Beispiele mögen uns gezeigt haben, wie auf einer Reihe von Heeres Collagen bereits die Pigmente von der Palette des Künstlers zu den wahren Akteuren, den eigentlich Handelnden werden. Unters Joch der Formung und Maßgabe durch die Farben haben hier alle ‚wirklichen’ Dinge, das heißt alle photographierten oder ‚nach der Wirklichkeit gemalten’ Dinge sich zu beugen, zumal der Mensch und zuvörderst der Mensch als Gott.

 

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Sehn wir nun, wie im Schaffen des Künstlers die Farben selber alle Rollen übernehmen, die tragenden Rollen und jene der Komparserie. In dem Universum, als welches sein Werk uns gegenübertritt, werden nun die Farben in Einem das bereits Gewordene und das Es werde. Zu verfolgen ist also Heribert Heeres Weg von der Montage disparater Bildmaterialien, die unter Akrylfarbzügen sich verbirgt und zu erkennen gibt, zum motivisch noch heterogenen, stofflich aber homogeneren Ölbild. Sein Weg von der Collage zur Gemalten Collage.

 

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Maschera – Persona – Prósopon

 

Ganz anders noch als jener, der Fragmente verschiedenster Herkunft als objets trouvés auf rechteckiger Fläche zu einem neuen Reiz für die Augenlust und damit zu einer neuen Struktur potentieller Sinnerfindung bündelt, kann als Demiourgos sich erfahren, wer selber, auch nach vorgefundenen Objekten zwar, diese aber im ‚Abbild’ umgestaltend, als eigner Hände Werk ein neues Bild erschafft. Sein schöpferischer Odem ist’s, den etwa auf dem Ölbild Maske 2 das höchst poröse Inkarnat der opulenten wie verruchten rotmaskierten Nackten atmet.

 

Am Anfang ist die unberührte Fläche, die weiße Leinwand, und der erste Schöpfungstag zieht nochmals herauf. Wie Janus kaum je zu fassen, trägt er bald das Angesicht der Morgensonne, die blutig und wissend hinterm Horizont den Bergkamm erklimmt, und bald, nur einen halben Korb apfelwangiger Früchte entfernt, das rosige Gesichtchen des Kindes. Halbgeöffnet der Mund, als riefe er wispernd ins Leben, was noch nicht genau so lebendig ist. Selig seichte Brunnen voll kaum erahnter Welt die wasserklaren Pupillen. Die Allegorie jenes unwiederbringlichen Tages sehn wir in die Zweidimensionalität gerettet, eingefangen und festgehalten in einer Collage, die mit scheinbarer Schlichtheit Blumen betitelt ist.

 

Es ist Adams erstes Erwachen, gepaart mit einer Beredsamkeit und Gewandtheit des Ausdrucks, mit einer Durchdringung der geheimsten Naturbeziehungen, wie nur hohe Geistesbildung und reife Beschaulichkeit sie verschaffen kann, wie bereits August Wilhelm von Schlegel über Calderòn gesagt hat. Denn ebenso wenn Heere das Entfernteste, das Größte und Kleinste, Sterne und Blumen zusammenstellt, so ist der Sinn aller seiner Metaphern der gegenseitige Zug aller erschaffnen Dinge zu einander wegen ihres gemeinschaftlichen Ursprungs.[5]

 

Zum einen spiegelt so das Blumen-Bild im Ganzen das Verfahren des Künstlers, dessen kaltem Seziermesser Nichts, das hienieden einmal heilig war, entgeht, und dem dies Alles, zerstückelt und neu zusammenfindend kraft einer „Magie des Lebens selbst“, so Heere, wieder auferstehen darf; ein Verfahren also, das dem Erbe der europäischen Moderne und hierdurch stets sichtbar auch den europäischen und außereuropäischen Vormodernen verpflichtet ist. Darüber hinaus aber weisen die Blumen, und zwar keineswegs als einzige unter den Collagen aus dem Zyklus der Neuen Allegorien, schon auf die künstlerische Neuschöpfung aus dem Nichts oder richtiger auf das Nichts der unberührten Leinwand voraus. Die schlechthin zweifelhafte, zwitterhafte Kunstgattung, die erklärte Totengräberin der Kunst trägt hier in sich die Verheißung eines in der rechteckigen Ordnung des Münchner Ateliers wieder und wieder kehrenden ersten Schöpfungstags.

 

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Heribert Heeres Gemalte Collagen ermangeln also der Vorbereitung im eigenen Werke so wenig wie der Vorläufer in den historischen Avantgarden. Wie eingangs schon angedeutet, findet der Künstler einige seiner Ahnherren unter den Surrealisten des vergangnen Jahrhunderts, die insofern abseits einer orthodoxen Moderne der ‚reinen’ Malerei agieren, als sie ihre Bilder wohl dem Gegenständlichen öffnen als einem geheimen Zeichensystem des von herrschender Rationalität und Moral ins nicht mehr Sagbare Abgedrängten. Das Ding, der alltägliche Gebrauchsgegenstand sowie das Wesen des Pflanzen- und Tierreiches bis hinauf zur menschlichen Spezies, wird, einmal willfähriges Wachs[6] in despotischer Künstlerpranke und damit der definitiven Verdinglichung des praktischen Verwertungszusammenhanges entrissen, dem Schöpfer wie dem Betrachter von Kunst Komplize und Sprecher kaum eingestandenen Verlangens. Solches Verlangen ohne Zensur, unverstellt und rein zu Worte kommen zu lassen, ist die Erwartung André Bretons an eine revolutionäre, über-wirkliche Kunst gewesen.

 

Dem abgeklärten Lächeln aber und dem höhnischen Grinsen dieses mit allen Wassern der Massenmedien gewaschenen Einundzwanzigsten Jahrhunderts ist die Reinheit eines von Manipulation unberührten Unbewußten ebenso als Illusion entlarvt wie ein künstlerisches Schaffen ohne jedes vermittelnde, formende Eingreifen des kontrollierenden Verstandes – zu unübersehbar groß die Schar der voll aus dem Bauch heraus sich verwirklichenden Epigonen, die diese Idee unwiderruflich zum Gespött gemacht haben. Und in einer permissiven Gesellschaft, die das nicht Sagbare dadurch verdrängt hat, daß grundsätzlich alles sagbar wurde, stellt sich zudem die Frage nach der raison d’être, die dem subversiven Sprechen künstlerisch arrangierter allegorischer Dingwelten heute noch bleibt. Werden Sinnbilder des Verdrängten nicht zu bloßen Verstärkern neuer Konformität, sobald das Verdrängte selbst ‚angesagt’ ist? War jemals Subversion gegen ihr Verflachen zum Trend gefeit? Ist andererseits nicht die Forderung an die Kunst, sie möchte ihrer Zeit stets schrill dissonanter Widerpart sein, eine durchaus zeitgebundene Maxime der Chock-Ästhetik einer mittlerweile selbst historischen Moderne?

 

Eine Kunst indes, die, wie diejenige Heeres, hymnisch dem Wohlgestalten inmitten des schlechten Bestehenden Dauer schafft und dabei ihrer Verschwisterung mit der Philosophie und ihres priesterlichen Erbes eingedenk bleibt, kann weder der Konzilianz entraten noch des Widerspruchs. Ihre anteilnehmende Zeitgenossenschaft und ihre Verpflichtung auf dem Zeitgenossen entfallene Wahrheit, Eros also und Mnemosyne lassen solche Kunst ihrem Publikum im Vertrauten begegnen, mit Schönheit es generös bewirten und wieder und wieder es verwirren und befremden. Wie denn auch Dissonanz nur dort zur Wirkung gelangt, wo nicht Harmonie in Vergessenheit geriet. Unverhoffte Breschen schlagen Befremden und Wirrwarr des geschichteten Schönen, schon Verfallenden und im Verfall Verewigten dem Denken. Zur Höflichkeit der heereschen Kunst gehört es, daß sie mit Mündigkeit, Beschlagenheit und Einbildungskraft dessen rechnet, der ihr in die Fänge geht.

 

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Dies Schlagen philosophischer Funken aus dem doch mortifizierten Ding, dies Wetterleuchten von Offenbarung aus Ruinen ist es, das den hier zu besprechenden ‚post-modernen’ Künstler und seine modernen ‚Mentoren’ einbettet in den teils unterirdisch vom Barock zu uns her sich wälzenden Strom einer lang geringgeschätzten allegorischen Tradition. Wie Walter Benjamin gezeigt hat, ist es gerade die Funktion der Allegorie, „historische Sachgehalte […] zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen“[7]:

 

„Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück, so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. Das heißt: eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht. Er legt’s in ihn hinein und langt hinunter: das ist nicht psychologisch, sondern ontologisch hier der Sachverhalt. In seiner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht den Schriftcharakter der Allegorie. Ein Schema ist sie, als dieses Schema Gegenstand des Wissens, ihm unverlierbar erst als ein fixiertes: fixiertes Bild und fixierendes Zeichen in einem.“[8]

 

Seltsam vertraut erscheint dem Zeitgenossen der Dampflokomotive und noch des Mobiltelefons dies barocke Verschwimmen der Grenzen: intermedial die ‚hieroglyphische’ Verschmelzung von Bildsymbol und Sprachzeichen und ontologisch die verdunkelte Unterscheidbarkeit von lebloser Materie, beseeltem Wesen und ‚rein geistiger’ Idee. Uns drängt damit die paradoxe Einsicht sich auf, daß der künstlerisch-literarischen Moderne vielleicht ausgerechnet ihr Rekurs auf eine vormoderne Kunstform bis heute erstaunliche Lebensfrische erhalten hat. ‚Aktuell’ blieb moderne Wahrnehmung wohl nicht zuletzt deshalb, weil ihr aus dem vermeintlich so fernen Barock das Werk als Ruine wiederkehrte. Von Benjamin im allegorischen Trauerspiel einer heillosen, von Glaubensspaltung und Kriegsverheerung gezeichneten Epoche erkannt, rettet allein solch verstümmeltes Kunstwerk übers Innewerden unserer metaphysischen Unbehaustheit hinweg dem Leben eine Verheißung von Ganzheit und Heil.

 

Da aber jede derartige Verheißung (ebenso wie ihr Gegenspieler, der totale Relativismus) irreparablen Schaden nahm, als mit der Shoah ein dem Menschen mögliches absolut Böses wirklich wurde, ist Rettung des Landes, in dem Milch und Honig fließt, wie sie uns heute bei Heere als liebevoll-ironische Archivierung seiner Trümmer begegnet, nur nach der Erlösung zu datieren. Wissend, nicht verklärend spannt der Blick zurück auf die Ruinen des Neuen Menschen und anderer säkularer Parusien des vergangnen Jahrhunderts den Horizont dieses Werkes auf.

 

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Hinter den erreichten Grad der Bewußtheit zurückzugehen ist dem Einundzwanzigsten Jahrhundert endgültiger noch als allen früheren verwehrt. Und höchste Bewußtheit bei aller Lust am beseligenden, verjüngenden Lethe-Trunk, bei aller Hochschätzung der von Nietzsche gepriesenen Fähigkeit zu vergessen, verbrüdert Heere jenen Surrealisten, die innerhalb der ‚Bewegung’, für die sie in Anspruch genommen werden, nicht zufällig Außenseiter gewesen sind: Giorgio de Chirico, mehr noch seinem jüngeren Bruder Alberto Savinio und nicht zuletzt Salvador Dalí.

 

Da ist zunächst der im Argonautenhafen Volos geborene Giorgio de Chirico, von dessen verlassenen Plätzen mit finstergrün leuchtenden mediterranen Himmeln, himmelspießenden backsteinroten oder kalkweißen Türmen, eisernen Kanonenrohren, ungenießbaren Riesenartischocken von derselben Konsistenz, barbusig schlafenden Ariadnen aus Marmor, elegant befrackten Risorgimento-Standbildern und nicht minder starren, lautlos keuchenden Schnellzügen zu den Surrealisten in fieri erstmalig ein unzensiertes Unbewußtes sprach. Der alternde, ungeniert das gefeierte und nachgefragte Jugendwerk kopierende, parodierende, ‚verratende’ De Chirico mit seiner Freude an der ‚rückwärtsgewandten’ Provokation in die Jahre gekommener Provokateure. Was jenen noch Notwendigkeit gewesen ist, harte Notwendigkeit einer Selbstfindung im Sichabgrenzen gegen einen etablierten, ‚bürgerlichen’ Kunstbetrieb, wurde ihm, dem bereits zu Lebzeiten zum Denkmal seiner selbst Versteinerten und noch dieses Klischee malerisch Ausweidenden, zum überlegen gehandhabten Spiel.

 

Ketzerische Bewußtheit eignet auch dem Surrealismus Dalís in der künstlerischen Auswertung der buchstäblich in Gold aufzuwiegenden eigenen Paranoia: ein virtuoses Verfügen über künstlerisches Kapital, hinter dem zeitgenössische und nachgeborene Mißgunst nur schnöden Geschäftsgeist hat entdecken wollen. Das geheime Leben des Salvador Dalí, die gewiß weder bescheidene noch langweilige Autobiographie des Exzentrikers aus Figueras, ist einzigartiges Dokument einer künstlerisch sehr fruchtbaren Vermählung von ‚Wahn’ und überscharfem Selbst-Bewußtsein.

 

Der ‚bewußte Surrealist’ schlechthin ist Savinio, der zu einem Schreiben und Malen als psychischem Automatismus deutlich auf Distanz geht. Nicht zufrieden damit, das Unbewußte und das Formlose unzensiert zu Wort kommen zu lassen, will er erklärtermaßen selbst noch dem Bewußtlosen Bewußtheit und dem Formlosen Gestalt verleihen. Der verschmitzt-abergläubische Animismus der Dinge, der es Savinio in Walt Disneys Mickey-Mouse-Trickfilmen so angetan hat, durchwirkt sein eigenes Gesamtwerk als künstlerische, künstliche Animation der toten, zu diesem Behufe getöteten Dinge.

 

Und bei Savinio wie auch bei De Chirico und Dalí begegnen wir dem für Heeres neue Ölbilder so richtungweisenden Verfahren der Gemalten Collage, deren Vorlagen nicht mehr Wahrnehmungsgegenstände aus der Natur selbst sind, sondern ihrerseits schon vom Menschen fingierte Natur, also ihrerseits schon ‚Kunst’. Fragmente von Fingiertem sehn wir, ihren ursprünglichen Rezeptionsbedingungen entrissen, mit anderen Fragmenten von Fingiertem zusammentreten und ihre Wunden zeigen. Die Gemalte Collage ist die schlechthin autoreflexive Kunst, welche, ihre ‚eigentliche’ Aufgabe, die Naturnachahmung,[9] ohne Reue verratend, mit den Mitteln der Malerei bare Kunst und zwar eine ‚späte’, ‚brüchige’, ‚sich auflösende’ Kunst gerade in ihrer Hinfälligkeit imitiert. Eine ihrer Sterblichkeit, ihrer Nacktheit bewußt gewordene, nunmehr rettungslos bewußte Kunst.

 

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Ihrem bis zur Schmerzhaftigkeit klaren Durchblick muß auch die durchs ganze ‚bürgerliche Zeitalter’ hindurch aller Kunst abverlangte Originalität sich schließlich als erbauliche Mär entpuppen: jene den göttlichen Schöpfungsakt wiederholende creatio ex nihilo, die den ‚wahren Künstler’ vor dem ‚sterilen Epigonen’ auszuzeichnen pflegte und bis heute im Urheberrecht ihre kodifizierte Einhegung findet. „La questione dell’originalità non può avere relazione che con la parte esteriore e superficiale di un’opera d’arte: la parte meno nobile“[10], schreibt Savinio, im übrigen leidenschaftlicher Lobredner der römischen Kopien griechischer Originale[11].

 

Solcherart entthront, bleibt ‚Originalität’ als das bloß Kontingente, im Grunde Entbehrliche, in jedem Werk am stärksten dem Moment seiner Entstehung Verhaftete zurück: als das Sterbliche an der unsterblichen Kunst. Entgeht also Kunst, wo sie auch fürder reiner Quell eines Niedagewesenen bleiben will, letztlich doch nicht dem allzumenschlichen Zwang zur Wiederholung, so erschließt sich ihr die ‚wahre’ Freiheit vielleicht in der kundigen Kanalisierung einer so niedagewesenen Wiederkehr des Immergleichen.

 

Wie wir bereits erwähnten und Gerd Roos (2001) gezeigt hat, arbeitete Savinio selbst „[b]ei der Gestaltung seiner visuellen Welt […] nicht nur mit originären Inventionen, sondern griff […] auch vielfach auf ‚immagini prefabbricati’ (Marco Sabbatini) zurück. Der verwendete Fundus beinhaltet Photographien aus dem Familienalbum ebenso wie ethnographische Aufnahmen fremder Völker, akademisches Studienmaterial von posierenden Aktfiguren ebenso wie ein Kinderbuch mit Zeichnungen von Tieren oder ein mit Holzstichen illustriertes Werk wie La terra prima del diluvio von Louis Figuier. Die Grenzen von High and Low permanent überschreitend, kombiniert Savinio derartige Materialien mit Motiven aus den Stichen von Marcantonio Raimondi nach Michelangelo und Raffael oder aus dem Tausende von Nachzeichnungen enthaltenden Répertoire de la statuaire grecque et romaine des Archäologen Salomon Reinach […].“[12] Und nicht zuletzt nimmt er, wie Roos u. a. an den Gemalten Collagen Souvenir d’un monde disparu, Voilà mon rêve[13] und Découverte d’un monde nouveau (1929)[14] exemplifiziert, wiederholt Anleihen bei Arnold Böcklin, dem Schweizer Bildner eines sinnenfrohen, nichts weniger als idyllischen Arkadien.

 

Unsere ausführliche Anleihe bei Roos rechtfertigt sich aus der bemerkenswert exakten Beschreibung der Arbeitsweise Heribert Heeres, die wir dort entdecken, wenngleich die Tatorte der „kulturhistorischen Strandräuberei“ (Marcus Haucke)[15], deren man auch Heere zeihen mag, andere sind: Das Repertoire seiner Quellen reicht, um davon nur einen unvollständigen Überblick zu geben, von (1) alten Meistern der europäischen Malerei wie Fra Angelico, Sandro Botticelli, Luca Signorelli, Peter Paul Rubens über (2) Filmstills aus populären Streifen unserer Tage (Gladiator, Speed), (3) exquisite Kochbücher (Proust. La cuisine retrouvée)[16] und (4) Stiche, die von der Blüte der Geheimen Wissenschaften im frühneuzeitlichen Europa künden (Alchemie. Ursprung der Tiefenpsychologie[17]) bis hin zu (5) zeitgenössischen Photographien wie den hochartifiziellen Stilleben und Akten von Paul Outerbridge, den virtuos zwischen Schrägem und Schönem, zwischen ‚Kunst’ und ‚Kitsch’ oszillierenden Bildern von David LaChapelle und privaten Aufnahmen aus Familie und Freundeskreis des Künstlers. Wie Savinio verwebt auch Heere seine individuelle Biographie mit der ‚Biographie’ seines Zeitalters, etwa wenn er auf dem Gemälde Max eine Profilansicht seines Sohnes mit zwei sehr unterschiedlichen, der heutigen Öffentlichkeit in unterschiedlichem Maße zugänglichen Objekten der Begierde, nämlich einem hier zentrierten fruchtigen Dessert, einer prächtig angerichteten, mit frischer Minze garnierten Mousse de fraises, und einem linker Hand in tanzender Bewegung eingefangnen androgynen Eminem, zusammenschaut.

 

Unterschätzen wir nicht das schöpferische, also tendenziell den Originalen durchaus gefährliche Potential der hier behandelten ‚Kopisten’! Wie Vorlagen unter den Händen des malenden Collagisten sich wandeln, sich verformen und neu sich offenbaren können, sehen wir bereits an der Umdeutung, die dem berühmten Gemälde L’Angélus von Jean-François Millet bei Dalí mehr als einmal widerfahren ist und damit nicht mehr wegzudenkender Teil seiner Rezeptionsgeschichte wurde. Das ‚rein religiöse’ Sujet dieses beschaulichen Genrebildes ländlicher Einfachheit, auf dem wir einen Bauern und eine Bäuerin erkennen, welche, beim abendlichen Angelusläuten in der Feldarbeit innehaltend, in stille Andacht versunken sind, erfährt im mehrfachen Zitat[18] eine starke erotische Aufladung, die nicht ohne Rückwirkung auf unsere künftige Wahrnehmung des Originals bleiben kann: Plötzlich ist die Inbrunst des Gebetes nur mehr lautloser Kontrapunkt zu einer erschreckend kohärent sich entbergenden inzestuösen Brunst zwischen Bäuerin und Bauer, zwischen Mutter und Sohn, die erst in der Verspeisung des letzteren ihre Befriedigung finden wird, worauf dem kritischen Paranoiker schon die Haltung der betenden Frau, ans notorisch kannibalische Gottesanbeterinnenweibchen gemahnend, hinzudeuten scheint. Und der in Demut und Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten abgenommene Hut in den Händen des Bauern behütet und bemäntelt schamhaft eine Erektion. Einer sexuellen Deutung bieten auch die ‚harmlosen’ landwirtschaftlichen Requisiten Kartoffelsack und Schubkarre nur allzu willig sich an, die auf Dalís religiös-erotischer Synopsis La gare de Perpignan (1965) denn auch so wenig fehlen dürfen wie das betende Bauernpaar. Da umrahmen Millets Protagonisten ein strahlendes griechisches Kreuz, von dessen weißblendendem quadratischem Zentrum aus andreaskreuzförmig vier schwächere Lichtkegel die Diagonalen des Bildes aufspannen: Diese Schein-Werfer-Kegel technisch herstellbarer Erscheinung durchschneiden und verdecken das im Hintergrund zentriert sich konturierende Antlitz des dornengekrönten Erlösers, welcher in der zweimaligen Epiphanie eines anderen Salvador – des in Gesellschaft eines Waggons der französischen Staatsbahnen frei schwebenden Malers in Person – überraschend vervielfacht ist.

 

Derlei private Mythographie, die einander widerstreitende Figuren des Begehrens im Akt ihrer Verschleierung dem suchenden, deutenden Blicke bloßlegt, begegnet uns auf Heeres Gemalten Collagen wieder. Hier ist freilich die Präsenz des Künstlers eine diskretere. Das offen sich als solches deklarierende Selbstporträt wird man vergebens suchen. Während also Dalí, De Chirico und auch Savinio, diese mediterranen Gottheiten, gleich ihren antiken Vorbildern, durchaus in persona sich unter ihre Geschöpfe mischen, bleibt Heere in seinem künstlerischen Universum der deus absconditus. Doch das ist nur zur Hälfte richtig. Denn einer ‚postmodernen’ Wahrnehmung, der die animistischen Ursprünge jedweden Götterbildes wieder präsent sind, einer restaurierten ‚prähistorisch-pantheistischen’ Wahrnehmung lassen die Gegenstände dieser Bilder allesamt als Offenbarung ihres Schöpfers sich entdecken. Eine schamhafte Offenbarung ist dies, die persönlicher Selbstdarstellung sich entgegentürmende allerhöchste Hürden zu überwinden hat und, wenn sie denn sich ereignen kann, des dechirichianischen Tempelvorhanges nicht entraten mag. Die Maske ist daher ein Emblem der heereschen Kunst.

 

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Möglich wird dies durch die Mehrdeutigkeit der Theaterlarve als einer Oberfläche, die uns zugewandt sich ‚offen’ zeigt und zugleich etwas ‚Wesentliches’ hinter sich verbirgt. Das Wort Maske, vom italienischen maschera über das französische masque in die deutsche Sprache gelangt, führt Richard Weihe in Die Paradoxie der Maske (2004), seiner fundierten Kulturgeschichte dieses Requisits, auf das – vermutlich über Sizilien auf die apenninische Halbinsel gekommene – arabische Lexem mashara zurück: „Zunächst in der Bedeutung von Gegenstand des Spotts verwendet, dann im Sinne von Spaßmacher, wurde es später auch zur Bezeichnung einer maskierten Person oder Maskerade gebraucht, die die Identität des Narren verschleierte.“[19] Diesem im christlichen Abendland sich durchsetzenden, stark moralisch getönten Ausdruck, der den ganzen unversöhnlichen Gegensatz von ‚Natur’ und ‚Kunst’, von ‚Wahrheit’ und ‚Verstellung’ transportiert, stehen in der Antike zwei Wörter gegenüber, die für das hier darzulegende Verständnis der Maske nicht minder relevant sind: das griechische prósopon, das sowohl das menschliche Gesicht als auch die Theatermaske, also jenseits der Unterscheidung zwischen Künstlichem und Natürlichem das dem Betrachter zugewandte Angesicht bezeichnet, und das lateinische persona, das eine Ausdehnung und letztlich eine Verschiebung seiner Bedeutung von Außen nach Innen durchmacht, von der Larve des Schauspielers zu dem von diesem verkörperten Charakter, von dem, was einer in der Gesellschaft ‚darstellt’, hin zu dem, was ihn als Einzelnen ausmacht, von der öffentlichen und juristischen Person hin zum ‚Persönlichen’. Dies weitende Gleiten der Bedeutung und jenes Verschwimmen aller Unterscheidbarkeit sind immer mitzudenken, wenn auf Heeres Bildern Masken auftreten – stets unter dem Patronat des Dionysos, der „dasjenige [ist], was sich ständig transformiert: nicht Gott, sondern Mensch, nicht Mensch, sondern Tier, nicht dieses Tier, sondern ein anderes. Dionysos ist immer das Andere auch. Dionysos ist das Eine in sich selbst Unterschiedene. Er ist der Gott – um Hölderlins Oxymoron zu verwenden – des ‚einig Entgegengesetzten’, der Einheit des Unterschiedenen“[20].

 

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Das Gemälde Maske 2 montiert ein Motiv von Outerbridge, den Maskierten Akt mit Hut (ca. 1936) mit einer Gestalt aus Botticellis berühmtem Bild La primavera: Der mit angewinkeltem rechtem Bein zentriert im Vordergrunde sitzenden Maskierten zugewandt ist links, im Begriffe ihr sich anzuschmiegen, nur ausschnittweise sichtbar, Chloris, die bei Botticelli, der Blumengöttin Flora unmittelbar folgend, Blumengewinde im Mund, zwischen Entrüstung und Wohlgefallen nach frecher männlicher Umklammerung von hinten (Zephir) sich umdreht. Zur Maskierten blickt also, verfremdet und des jahreszeitlichen Schmuckes ledig, die jugendliche Göttin aus dem Gefolge der Flora und der Venus voll Hingabe und Erwartung auf. Wie hier nicht an die „obszöne Anstößigkeit der Maske“[21] denken? Denn ist nicht dies gewiß doch mit Bedacht in Acht und Bann getane Utensil in der Tat ganz darauf ausgerichtet, „das Geschlecht der maskierten Person unbestimmbar zu machen, also eine zweideutige, ambivalente Persönlichkeit zu schaffen, die auf Männer wie auf Frauen anziehend zu wirken vermag“[22]? Während indes bei Heere an der Weiblichkeit jener üppigen Maskierten kein Zweifel bestehen kann, ist alles andere als eindeutig die geschlechtliche Identität der ihr zugetanen Unmaskierten, zweifelhaft ihre göttliche, ja selbst noch ihre menschliche Identität. Für Augenblicke war der Unterzeichnete dieser Notizen versucht, an einen stattlichen Schoßhund zu denken. Nähme doch ein solcher durchaus passend zu der die Maskierte eher garnierenden als bekleidenden krebsroten Federboa sich aus, welcher ihrerseits die – pastos aufgetragene, konturenverschleierende – Farbe immerhin die Möglichkeit ließe, auch um jene schöne Schulter lüstern sich rankendes Schalengetier aus dem Meer zu sein.

 

Und als wäre die Gefährtin der Maskierten bloß Leinwand eines Schattentheaters, zeichnet auf ihrem Gesicht, dieses in zwei farblich distinkte Flächen teilend, der Arm der Begehrten, den es nur ‚vordergründig’ verdecken kann, nachtblau seine Formen ab, passend zum ähnlich getönten Hintergrund. Leuchtend pink aber inmitten dieses Schattenumrisses das Kinn der ihrem Windgotte ungetreuen Chloris, das mit der Armbeuge der verdeckten Maskierten zusammenfällt und so zugleich Wölbung und Tiefe vorstellt. Im Widerstreit versöhnt sehen wir zwei Prinzipien malerischer Darstellung. ‚Abstrakte’, ‚moderne’ Flächigkeit mißt und vereint sich mit ‚realistischer’ Plastizität.

 

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Noch klarer tritt dies ‚einig Entgegengesetzte’ der Darstellung auf dem Gemälde Maske 3 hervor. Wieder steht im Zentrum des Bildes eine unbekleidete Maskierte nach Outerbridge. In den Hintergrund verwiesen wird sie jedoch (1) von der brustaufwärts abgebildeten libellenumschwirrten rothaarigen Frau rechts, welche, verunsichert gewiß und merklich gealtert, den Weg aus LaChapelles photographischem Universum hierhergefunden hat, und (2) links von einer nochmaligen botticellianischen Erscheinung, nämlich der Venus aus dem berühmten Frühlingsbild, die, bereits dort in Haltung und Antlitz einer Madonna nicht unähnlich, hier vollends das Wesen der Gottesmutter verinnerlicht zu haben scheint. Die bedenkliche Transparenz ihres Gewandes hat sich zu züchtigem Blau verfinstert, wie es der Heiligen Jungfrau eher geziemt. Für ihre Transfiguration zur Mutter Gottes aber zahlt Botticellis Venus einen hohen Preis. Den Preis ihrer Verflachung zu einer ‚transparenten’, lichtdurchlässigen Fläche, welche die Körperumrisse jener modernen Venus mit der Maske, die sie unseren Blicken verstellt, um so schärfer hervortreten zu lassen verurteilt ist. Die Linie jenes ‚Fremdkörpers’ im Rücken spaltet diese tugendsame, mädchenhafte Venus entlang der Nasenlinie über Kinn und Kehle zum Ansatz der streng verhüllten Brust in eine rosige und eine blaue Fläche.

 

Aus dem die Rivalin abbildenden Blau heraus starrt wie tot ein silbriges, ‚kaltes’‚ ‚göttliches’ Fischauge. Daneben blickt aus der fleischfarbenen Gesichtshälfte ruhig ein braunes, ‚warmes’, ‚menschliches’ Auge uns an. Solch olympisches Schielen mag uns ins Grübeln bringen. Beklommen sind wir auch im Angesicht der von Angst und Schmerz des gehetzten Raubtieres gezeichneten Züge der sehr bleichen Rothaarigen rechts im Bild, deren blaß noch blühende Körperlichkeit aus nächster Nähe zu bestaunen ist. Und so suchen wir Zuflucht bei den blicklosen Augenschlitzen der Maske, die bei all ihrem Beunruhigenden zumindest die Verläßlichkeit des unwandelbar Starren, Unempfindlichen verheißen.

 

Aber sieh! – selbst das ist nur scheinbar. In schweinernem Rosa getüncht, farblich also schon dem verhüllten Gesichte angenähert, macht die ruchlose Larve Miene, mit jenem eins zu werden. Stellenweise verschwimmen ihre Konturen ganz mit der natürlichen Haut, die rundum nur da und dort durch Schatten und Blässe, durch geringere Frische des Teints als solche sich verrät. Die Maske ist das wahre Antlitz, und nichts bleibt ‚dahinter’, wenn sie abgerissen wird.[23]

 

Die Epiphanie dieser drei so schönen und so gegensätzlichen Frauen mögen wir auch als eine Allegorie der Lebensalter begreifen. Insonderheit dem barocken Lebensgefühl entsprach derlei Synopsis des zeitlich Distanten, physiologisch, ja ontologisch Gegensätzlichen auf begrenztem Raum, wie Tizian und Van Dyck sie jener Epoche bescherten. Merkwürdig nah, ja in eignen Ausdruck übersetzbar erscheint unserem Zeitalter solch ‚heraklitisches’ Lebensgefühl. Bei Heere sind indes, zumal gegenüber dem tizianischen Modell, die abgebildeten Lebensalter auch zeitlich einander nähergerückt. Auf allerengstem Raume drängen sie sich: die pikanterweise von Venus vorgestellte holde Jungfer (15), die verlarvte, sich entlarvende gefallene Schöne (25) und die noch nicht Alte, aber rasch Gealterte (35).

 

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Ein ständiger, wenn auch unwillkommener Gast, den aus dem Leben auszusperren eine technokratische Moderne vergebens sich unterfing und dem die Stirn zu bieten heroisch eine von jener nicht wirklich sauber zu trennende künstlerisch-philosophische Moderne versuchte, hat in Heeres ‚postmodernem’, italienisch-bayerisch getöntem Neobarock wieder den ihm gebührenden Platz inmitten des Lebens: der Tod, metonymisch gegenwärtig in seinem gängigsten Symbol, dem Totenschädel.

 

Durch die moderne und prämoderne Kunstgeschichte zeigt der Schädel seine hämischen Züge, grinst aus den Selbstporträts von Arnold Böcklin und Lovis Corinth hervor. Und ein in der Epoche der europäischen Religionskriege beliebtes Motiv, der Totentanz, zu dem der Knochenmann aufspielt, erweist sich dem Maler Felix Nußbaum als kraftvoll genug, um vor seiner eignen Deportation und Ermordung noch das Grauen seiner Zeit im Bild zu bannen.

 

Ist der Begriff des Schicksals ein eigentlich unmöglicher geworden, nachdem der Nationalsozialismus das Schicksal zu seinem herrischen Götzen versklavt und alles getan hat, um selber den von ihm Stigmatisierten zum endgültigen Schicksal zu werden, so kann heute eine Zivilisation, die ein humanes Antlitz zu tragen für sich beansprucht, gar nicht umhin, auch dem Unkontrollierbaren behutsam wieder sich zu öffnen, also hinzunehmen, daß ein Letztes unserem Wollen sich entziehe. Dem Tod als einem ‚Schicksal’, das ohne Ansehen der Person auf jeden Menschen wartet, muß sie zwar unverzagt die Zähne zeigen, dort aber, wo er nicht weicht, auch ihm Quartier gewähren, soll ihr legitimer Kampf für Leben und Gesundheit nicht zum Kampfe gegen Kranke und Sieche pervertieren. Auf dem Wege solch menschlich gebotener Wiedereingemeindung des Leidens und Sterbens unter die Lebenden kann der Künstler mit seiner tieferen Einsicht in die Vorläufigkeit aller Zustände der Gesellschaft vorausgehn.

 

Wie nun in Heeres Schaffen der Tod und seine vermeintliche Gegenspielerin, die Liebe, einander bedingen und ineinander sich verwandeln, hat Alexandrina Slavescu 2003 in einer Rezension früherer Werke wie der Collagen-Reihe Tod in Venedig, der Computergraphiken-Serie Schädel und ausgewählter Christusbilder dargelegt. [24] Dort bereits verbergen sich in Christi edlem Angesichte (Paul Gerhard) „die Formen schöner Frauenkörper. Lust und Leid finden sich ineinander verflochten. Die Lust erscheint durch die Leiden des Todes hindurch. Sie flackert auf, sie schimmert, sie schillert in vielen ephemeren Farben. Wie ein Kaleidoskop von der vergehenden Zeit gedreht, verändern sich die Formen und Farben und gehen ineinander über, bis plötzlich die Umrisse einer anderen Gestalt klar werden und Lust und Leid in ihrer Metamorphose sichtbar werden.“[25] Als „einig Entgegengesetzte“ treten Liebe und Tod auch aus Heeres neuesten Werken dem Betrachter entgegen.

 

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Auf dem Gemälde Toskana rechts im Vordergrunde ruhend, hat ein Totenschädel uns das Profil zugekehrt, die Augenhöhlen nach links gewendet. Wenn auch überdimensioniert, beherrscht er nicht die Mitte dieses eigentümlich polyzentrischen Bildes, auf dem drei Figuren um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Links im Vordergrund hat nämlich der gewaltige Schädel sein Gegengewicht in einer höchst frischen, lebendigen Sennerin nach einer Photographie von LaChapelle. Ihr Aufzug darf freizügig genannt werden. Aus einem Krug schüttet sie sich Milch über den linken Oberschenkel, welche ‚sinnlose Vergeudung’ den Strom der Phantasien selbst dann zu beleben vermag, wenn die dem Trank aus mütterlicher Brust von Dalí unterlegte wildwuchernde, zwischen Eros und Thanatos oszillierende Symbolik uns nicht zu Gebote steht.[26] Von den Verkörperungen des geschlechtlichen Begehrens und des Sterbens eingerahmt, liegt hinten, leicht bekleidet, auf den linken Arm gestützt, in der Hand ein Tintenfaß und neben sich ein dickes Buch, ansonsten von einer Gottheit der heidnischen Antike kaum zu unterscheiden, einer der Kirchenväter: Sankt Hieronymus.

 

Den Heiligen Hieronymus kennen wir als Übersetzer der biblischen Schriften ins Lateinische, weshalb denn auch Buch und Tintenfaß ihn stets begleiten. Die Legende erzählt von seinem frommen Einsiedlerdasein, das jedoch fleischlichen Anfechtungen ausgesetzt gewesen sein muß. Man weiß von einem Löwen, den er gezähmt und sich gefügig gemacht haben soll wie einen Hund. Das Tier weicht dem Hieronymus auf den Darstellungen seines Lebens nicht mehr von der Seite, und so begegnen wir ihm auch auf dem Bild San Girolamo nel deserto von Gregorio de Ferrari (1647-1726), dem eben der Heilige entstammt, den Heeres Bild Toskana zwischen Liebe und Tod gebettet hat. Hier aber fehlt dem Eremiten das getreue Raubtier, oder richtiger: sein ‚Raubtier’, an dessen Stelle ins Bild getreten, ist das Weib. Ob sich’s wohl wird zähmen lassen? Ihm gar gefügig wie ein Hund?

 

– Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd’! Wie bei diesem Anblick nicht selbst noch aus solch populärromantischer Plattheit die Verheißung heraushören?[27] Ist der heilige Mann nicht jetzt erst, da die Kraft des Geistes, der da lebendig macht, und die Lockungen des Fleisches, das nicht minder lebendig macht, zu einer Ekstase ihm verschmelzen, ein aus Gnade Gerechtfertigter, ein Gerechter – ? Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?

 

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– Vielleicht auf dem Gemälde Judith?

 

Dort koinzidiert die Auffindung der enthaupteten Leiche des Holophernes durch dessen gerade vom Roß herabgestiegenen Getreuen, wie Botticelli sie gemalt hat, in spiegelnder Seitenverkehrung und unter Entfernung der Komparserie, mit der triumphalen Erscheinung eines Vamps, der überraschende Ähnlichkeit mit einem Sexsymbol unserer Tage aufweist: Britney Spears. Und ‚Modell gestanden’ hat dem Künstler in der Tat eine Porträtphotographie des Popstars: David LaChapelle hat nämlich Britney Spears in einem puppenstübchenartig stilisierten Mädchenzimmer aufgenommen, wie sie lässig mit dem Rücken an einer weißen Kommode lehnt, links und rechts die Hände auf das Bord gestützt. Dieses Bord als Handstütze darf sie mitnehmen, als sie unter Heeres Pinsel Judith wird; es ist der rückwärtigen Landschaft eingepaßt, wo es ein Stück des Horizontes bildet. ‚Britney-Judith’ sehn wir folglich surrealistisch auf den Horizont gestützt, womit sie ins Unermeßliche uns wächst, und der Baldachin des blauen Zeltdachs wird ihr zur Aureole unter freiem Himmel. Ablegen muß sie denn auch alles Kleinmädchenhafte, dem sie so viel von ihrem Erfolg hienieden verdanken dürfte. Denn der etwas süßliche Liebreiz dieser Augen, dieser Lippen, dieses Lächelns vermöchte kaum sich unversehrt zu wahren im Vollbringen und Begehen einer Tat, deren schauerliches, schaurig schönes Resultat, die fast nackte, kopflose Leiche eines ebenfalls noch jungen Mannes, im Vordergrund des Bildes, rücklings auf zerwühltem Linnen liegt. Über arglistiges Buhlen und heimtückischen Mord hinwegzuretten wäre die perfekte Maske kindlicher Unschuld allenfalls im sogenannten wirklichen Leben, das immer eine Spur verlogener, falscher ist als die Kunst, die im falschen Scheine immer eine Wahrheit zur Erscheinung zu bringen sich gehalten sieht.

 

Und wirklich bleibt von der Kindfrau in diesem Kunstwerk allenfalls das Unbotmäßige des Kindes zurück, die struppigen Haare, der Trotz der geweiteten, finster überwölbten Augen, das Wilde der Räuberbraut. Ein eng anliegendes weißes Höschen oben und unten das Mordopfer begrenzen die im Ganzen großzügig gewährte Sicht auf die Schenkel dieser Judith, die wir bis über die Knie hinab gewahren. Frei bleibt auch der Bauchnabel, und der Büstenhalter verhüllt nur halb, was darüber, von dunkelblonden Haarsträhnen und offener matt veilchenfarbener Jeansjacke umrahmt, dem Betrachter paarweis’ melonenförmig entgegenwogt. Herausfordernd und lasziv die fragezeichenförmige Haltung des Körpers, der den vorne Liegenden bezwungen, bezaubert und bezwungen hat. Herausfordernd lasziv die ganze Gestalt, die jetzt zurückgelehnt den Tatort überblickt, die skandalös sauberen, zerbrechlich schlanken Mädchenhände rückwärtig auf den Horizont gestützt.

 

Diese perspektivische Kongruenz des ‚faktisch’ niemals Kongruenten reflektiert gebündelt das vielfältige Einswerden des auf den ersten Blick so weit Entfernten in diesem Bild: Ein von überdimensionierten knallbunten Smarties als wiedererkennbaren Requisiten der Popkultur umschwebtes Girlie der MTV-Generation als biblische Femme fatale; ein Meuchelmord als bewunderungswürdige Heldentat für den Sieg der eignen Waffen; teuflische Verführung als gottgefälliges Werk. Und schließlich: Ein Stück Geistesgeschichte als Szene im universalen Geschlechterkampf, wie zumal die noch so nahe Wende zum vergangnen Jahrhundert ihn wahrnimmt, wurde hier Bild und nahm faßliche Gestalten an.

 

Das zerwühlte Laken – ein Schlachtfeld, das Lager einer dem tödlichen Streich vorausgegangnen Liebesnacht. Hier kräuselt sich’s zu Wellen des Meeres, dieser immer unersättlichen Mutter von allem, was auf Erden kreucht und fleucht, da ballen seine Knäuel sich zu lebendigen Gestalten mit Augen, Schnäbeln, Köpfen, ja da vermeinen wir die Vogelköpfe wiederzuentdecken und die einäugigen Brüste aus Max Ernsts Gemälde Liebesnacht (1927). Das Ewig-Weibliche zieht uns hinab. Mit „uns“ ist eine männlich sich definierende Geistigkeit gemeint, die in der Begegnung mit ‚weiblicher Animalität’ ihrer eigenen ‚widergeistigen Tierheit’ innewird, für welche Selbsterkenntnis im Erkennen des Anderen sie auf Heeres Bild Judith grausam teuer bezahlen muß, nämlich buchstäblich den Kopf verliert.

 

Von einer unerlösten Welt erzählt uns das rot klaffende Halsloch an der Stelle, wo der Kopf des Holophernes vielleicht nur deshalb fehlt, weil er der Betrachter dieser Szene ist und wir mit seinen brechenden Augen Zeugen werden dieser wunderlichen Transfiguration. Wenn Heeres Neue Allegorien nach der Erlösung zu datieren sind, so ist wohl doch im skeptischen Blick auf den weiteren Gang der Geschichte eine im Eventmarketing schändlich verbreitete, ausnehmend flache neudeutsche Redensart[28] durchaus als Drohung zu variieren: Nach der Erlösung ist vor der Erlösung.

 

*

 

Wo aber ist auch für die noch nicht geborenen Generationen die Verheißung bewahrt von einer Welt, die nach keiner Erlösung mehr verlangt, wenn nicht in einer Kunst, welche Kunstgeschichte, diese Verdichtung menschlicher Heils- und Unheilsgeschichte, reflektiert und in solch konzentrierter Spiegelung das Geschehen zwischen den Erlösungen skeptisch zu begleiten vermag, voller Sympathie mit den wohl oder übel darin Involvierten?

 

 

 

[1] In deutscher Übersetzung lesen sich diese griechischen Worte „Jesus Christus, Sohn Gottes, Erlöser“. Es handelt sich um das Akrostikon der Eingeweihten, das in dem harmlosen Worte ΙΧΤΥΣ – Ichtys (Fisch) sich verbirgt und zu erkennen gibt.

[2] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Vorrede, 4), in: id., Werke. Kritische Gesamtausgabe V, 2. Berlin, de Gruyter, 1973, 11-335, hier 20.

[3] cf. jedoch eine aktuelle, am Modus der Rezeption orientierte linguistische Darlegung der strukturellen Unterschiede zwischen Bild und Text in: Konrad Ehlich, „Sind Bilder Texte?“ In: Der Deutschunterricht 4 / 2005, 51-60. In der Tat unterscheidet die Möglichkeit des holistischen Zugriffs auch so ‚literarische’ Bilder wie die heereschen ganz klar vom Text, der beim Lesen in die Linearität des Nacheinanders gebannt bleibt und dem Leser niemals als Ganzer gegenwärtig ist, sondern immer nur als aktuell nachvollzogener Sprechhandlungszusammenhang und von diesem in Vergangenheit und Zukunft des Lesevorganges ausstrahlend als Erinnertes und als Erwartetes (cf. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. München, Wilhelm Fink, 1976). Und wir können die hier in Frage stehenden Bilder und deren avantgardistische ‚Vorbilder’ im Verweben von Bild und Text literarischer- wie malerischerseits (Guillaume Apollinaire, Max Ernst) unter anderem als Versuche deuten, die Zeitverhaftetheit, lies: die Sterblichkeit des Lesens aufzuheben in die potenzierte Gegenwart, lies: die Ewigkeit des Bildes.

[4] lat.: Vereinigungen des Gegensätzlichen. Die astrologische Konnotation des Wortes coniunctio ist uns indes nicht unwillkommen.

[5] zit. n. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/Main, Suhrkamp, 19781, 74  

[6] Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, wenn man an die camembertartige Konsistenz von Dalís berühmten Uhren denkt.

[7] W. Benjamin, op. cit., 160

[8] loc. cit., 161

[9] Vergegenwärtigen wir uns, daß dies bis vor hundert Jahren in Europa die Funktionsbestimmung der damals ‚modernen’, naturalistischen Kunst gewesen ist, die ausschließlich auf den Formenkanon des klassischen Altertums und der Renaissance affirmierend oder negierend sich bezog (cf. hierzu Wilhelm Worringers kunsthistorisch überaus wirkmächtige Schrift von 1908: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Dresden, Verlag der Kunst, 1996). Die klassische Moderne nach unserem heutigen Verständnis umfaßt dagegen all jene künstlerischen Tendenzen, welche, der Gegenständlichkeit radikal absagend oder aber diese neu entdeckend und bewertend, Auswege aus der naturalistischen Sackgasse und deren perspektivischer Verengung wiesen.

[10] Alberto Savinio, „Arte = Idee moderne”, in: Valori Plastici I (1918), Nr. 1, 3-8, hier 6: „Die Frage der Originalität kann nur mit der äußeren und oberflächlichen Seite eines Kunstwerkes in Beziehung stehen: seiner weniger vornehmen Seite.“

[11] A. Savinio, „Pitture pompeiane nel Museo di Napoli“, in: id., Opere. Scritti dispersi. Tra guerra e dopoguerra (1943-1952). A cura di Leonardo Sciascia e Franco De Maria. Milano, Bompiani, 1989, 332-336, hier 335.

[12] Gerd Roos, „Gemalte Collagen – Das Böcklin-Zitat bei Alberto Savinio“. Beitrag zum Symposion „Mit dem Gottesatem deiner Mythenbilder“ anläßlich des 100. Geburtstages von Arnold Böcklin, Basel 2001, nicht publiziert. Ich danke dem Autor, der so freundlich war, mir das Typoskript zur Verfügung zu stellen.

[13] loc. cit.

[14] G. Roos, „Alberto Savinios Découverte d’un monde nouveau (1929). Eine Reflexion über das Apollinisch-Dionysische“ in : Andrea Grewe (Hrsg.) : Savinio europäisch. Berlin, Erich Schmidt Verlag, 2005 (Tagungsband zum Internationalen Kolloquium Albero Savinio und die europäische Kultur der Zwischenkriegszeit, Universität Osnabrück, Juni 2002), 83-102.

[15] zit. n. G. Roos, „Gemalte Collagen – Das Böcklin-Zitat bei Alberto Savinio“, loc. cit.

[16] Jean-Bernard Naudin / Anne Borel / Alain Senderens, Proust. La cuisine retrouvée. Paris, Chêne, 1991

[17] Johannes Fabricius, Alchemie. Ursprung der Tiefenpsychologie. Gießen, Psychosozial-Verlag, 2003

[18] Zitiert wird Millets Angélus auf Dalís Bildern L’atavisme du crépuscule (phénomène obsessif) (1933), Gala et l’“Angélus“ de Millet précédant l’arrivée imminente des anamorphoses coniques (1933) und nicht zuletzt La Gare de Perpignan (1965), um nur einige zu nennen. Zu erwähnen ist hier zudem Dalís1963 publizierte, aber schon in den frühen 30er Jahren verfaßte Schrift Le mythe tragique de l’Angélus de Millet. Interprétation “paranoiaque-critique“. Cf. hierzu den Kölner Ausstellungskatalog Salvador Dalí. La Gare de Perpignan. Pop-Op, yes-yes, pompier. Herausgegeben von Gerhard Kolberg und der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig. Köln, Hatje Cantz, 2004, und insbesondere die Beiträge von Ralf Schiebler, „Dalí und die Wissenschaften. Der Angélus von Millet und die paranoisch-kritische Methode“ 39-50; Dawn Ades, „Der tragische Mythos von La Gare de Perpignan“, 61-72; und Andreas Mertin, „’Centre du monde’. Mystik und Religion in Dalís Kunst“, 73-82.

[19] R. Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München, Wilhelm Fink Verlag, 2004, 26

[20] loc. cit., 119

[21] A. Savinio, Sul dorso del centauro [Fragment], in: id., Tragedia dell’infanzia. A cura di Paola Italia. Milano, Adelphi, 2001, 133-186, hier 153: “la oscena indecenza della maschera”.

[22] ibid. Hier der übersetzte Passus im Zusammenhang: „La maschera […] dà modo di perseguire un altro fine, non meno immorale del precedente: quello di rendere indeterminabile il sesso della persona mascherata, di creare cioè tale una personalità ambigua, che possa riescire attraente sia ai maschi, sia alle femmine.”

[23] cf. jedoch Lukrez, De rerum natura, III, 58: „Eripitur persona, manet res“ und, hierauf Bezug nehmend, Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 33, wo einem deutschen Edelmanne als einzige mögliche Kur gegen die „Verliebung in eine bürgerliche Person“ und deren Nährung durch eine von äußeren Reizen wieder und wieder geschürte Einbildungskraft von jemandem, der es wissen muß, die Ehe verschrieben wird: „Denn diese ist Wahrheit.“

[24] Alexandrina Slavescu, „Liebe und Tod“ [Unveröffentlichtes Manuskript, 2003. Ich danke der Autorin, die so freundlich war, mir ihren Text zur Verfügung zu stellen].

[25] ibid.

[26] cf. Ralf Schiebler, „Dalí und die Wissenschaften“. loc. cit., 43. So steht die Milch einerseits „für das Lebensspendende und erotisch Wünschenswerte, andererseits enthält sie ein Gefühl von Gefahr und Tod. Letzteres geht auf eine in der Umgebung von Figueres verbreitete, eine milchige Flüssigkeit absondernde Pflanze zurück, die zu berühren Dalís Mutter dem Kind verboten hatte. Nach Erzählungen von Klassenkameraden sollte der Penis, wenn man ihn mit dieser ‚Milch der heiligen Therese’ einriebe, zu enormer Größe anschwellen – mit Todesfolge“.

[27] Kein Zufall ist die auch akustische Assoziation eines eher nördlich der Alpen beheimateten Lokalkolorits mit dieser Toskana, deren saftiges, hellgelbliches Grün, ein Kandinskygrün, ein Müntergrün, durchaus an eine oberbayerische Landschaft denken läßt. Die Herkunft des Künstlers behauptet sich strahlend noch am heller strahlenden Entstehungsort des Bildes.

[28] An dieser Stelle leisten wir Abbitte, sowohl für jene Variation einer Plattheit als auch für diesen Pleonasmus.

 

(2006)

Heribert Heere

KÜNSTLER

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