Am Anfang war die Flut. Ein Floß Lemuren
Schiebt Elch, das Vieh. Ihn schwängerte ein Stein.
Aus Totenreich, Erinnern, Tiertorturen
Steigt Gott hinein.
Gottfried Benn, Das späte Ich
Fabelwesen
„Nein, mein liebes Tier, Ihr dürft nicht sterben“, sagt die Schöne – und gibt dem Begehren des Tieres, das in den zeitgenössischen Illustrationen von Richard Doyle zu einem tapsigen Groß-Teddybären wird, endlich nach und – oh Wunder – „das Tier verschwindet und zu ihren Füßen erblickt sie einen Prinzen, schön wie Amor, der ihr dafür dankt, dass sie ihn aus seiner Verzauberung erlöst habe“[1]. In der märchenhaften Diktion des 18. Jahrhunderts von Madame Leprince de Beaumont, die auf ältere Motive der Tiermetamorphosen, etwa im „Goldenen Esel“ des Apuleius [2] zurückgreift, entdeckte die Schöne nicht das Tier im Manne, sondern den Mann im Tier.
Besonders die Fabelwesen sind nur in ihrem Werden, in ihren Metamorphosen, wie sie in den frühen Kulturen bis zur beginnenden Neuzeit gang und gäbe waren, zu begreifen. Doch was heißt „Tier-Werden“, wenn wir nicht ausschließlich kulturhistorisch vorgehen oder gar einer obskuren Esoterik verfallen? „Die Arten des Tierwerdens sind weder Träume noch Phantasmen. Sie sind durch und durch real“ meinen Deleuze/Guattari in ihren „Tausend Plateaus“:
Aber um was für eine Realität handelt es sich dabei? Denn wenn das Tier-Werden nicht darin besteht, ein Tier zu spielen oder nachzuahmen, dann ist auch klar, dass der Mensch nicht „wirklich“ zum Tier wird und dass das Tier auch nicht „wirklich“ zu etwas anderem wird. Das Werden produziert nichts als sich selber. Es ist eine falsche Alternative, wenn wir sagen: entweder man ahmt etwas nach oder man ist. Was real ist, ist das Werden selber, der Block des Werdens, und nicht angeblich feststehende Endzustände, in die derjenige, der wird, übergehen würde. Das Werden kann und muss als ein Tier-Werden bestimmt werden, ohne einen Endzustand zu haben, der das gewordene Tier wäre. Das Tier-Werden des Menschen ist real, ohne dass das Tier, zu dem er wird, real ist; auch das Anders-Werden des Tieres ist real, ohne dass dieses Andere real wäre.[3]
Gerade die analogen Monster der Vormoderne vermögen das Bedrohliche und Unheimliche auszudrücken. Je analoger, um so „wirklicher“ ist die Fiktion. Diese erscheint in meinen Arbeiten der Serie „Die Schöne und das Biest“ nicht in ihrer heutigen high-tech digitalisierten Hyperrealität, sondern als ironisches Bild mit all seinen Verweisungscharakteren.
Natürlich ist das Unheimliche, wie Freud in seiner berühmten Studie ausführt[4], nichts anderes als das „Heimliche“, was bis in unsere Kindheit hineinreicht. Sind aber nicht die Unheimlichkeiten unseres individuellen Daseins letztlich „Animalität und Tod“?[5].
Das Monströse ist eine Maskerade, denn „die Maske ist das fleischgewordene Chaos“ [6].
Die Maske des Monströsen fingiert den Schrecken des eigenen Todes.
Doch der maskierte Dämon des nächtlichen Schreckens birgt zugleich die taghelle Freude und die Begeisterung der Fülle des Lebens (was uns z.B. die Schöne im vertrauten Umgang mit dem Biest vermittelt).
Die Maske vor der Wahrheit vergöttlicht die Welt eher als sie zu vermenschlichen. Denn was sie herstellt, ist nicht die beruhigende Gegenwart des Weisen; eine göttliche Kraft, die aus den Abgründen natürlicher Animalität herkommt, tritt in Erscheinung, wenn sie auftaucht…Gewalt, Animalität und „Asozialität“ dieser geheiligten Gestalten sind ebenso stark gezeichnet wie die Güte oder der intellektuelle und soziale Charakter eines Gottes, der mit Moral und Vernunft solidarisch ist. Aber die wilde Zerstörung menschlicher Normalität – die der göttlichen Natur als ihr eigen angehört – enthüllt sich im Tierischen und in der Maske, während das ehrwürdige Bild sie verhüllt, das Pascal verächtlich den „Gott der Philosophen“ nannte.[7]
Für Bataille ist das „ehrwürdige Bild“ das des christlichen Gottes, der seinen ursprünglichen tierischen, maskenhaften und ekstatischen Charakter zum gütigen und sozialen Gott sublimiert habe. Trotzdem enthüllt das Bild auch gleichermaßen wie es verhüllt.
Das Tier hat selbst ein subjektives Leben, aber dieses Leben, so scheint es, ist ihm ein für allemal gegeben, so wie die leblosen Gegenstände gegeben sind. Die Erotik des Menschen unterscheidet sich von der animalischen Sexualität gerade darin, dass sie das innere Leben in Frage stellt. Die Erotik ist im Bewusstsein des Menschen das, was das Sein in ihm in Frage stellt. Auch die animalische Sexualität bringt eine Gleichgewichtsstörung mit sich, und diese Störung des Gleichgewichts bedroht das Leben, aber das Tier weiß es nicht. Nichts öffnet sich in ihm, was einer Frage gleicht. Wie dem auch sei, wenn die Erotik die sexuelle Aktivität des Menschen ist, dann insoweit diese sich von der der Tiere unterscheidet. Die sexuelle Aktivität des Menschen ist nicht notwendigerweise erotisch. Doch ist sie es stets dann, wenn sie nicht rudimentär, wenn sie nicht einfach animalisch ist.[8]
Der Mensch ist ein Tier, das arbeitet, wie Georges Bataille meint. Damit stellt er einen Gegensatz auf zu gängigen Deutung des homo sapiens als animal rationale, als „Tier, das denkt“.
Die Abwehr des Tierischen in der Menschennatur wir deutlich im Triumphzug des Christentums, dessen ethische und spirituelle Orientierung die heidnischen Naturgottheiten, die es als Siegesbeute mit sich schleppte, dämonisieren muss. Ihres mythologischen Hintergrunds entkleidet, aus ihrem originären Status herausgebrochen, auf ihre Äußerlichkeit reduziert, gelten sie jetzt als Fetische und Götzen, Dämonen einer satanischen Parusie. Tierische Attribute, die einst Weisheit und Überlegenheit symbolisierten und von der brüderlichen Verbundenheit alles Lebenden zeugten, erscheinen jetzt als tierische Deformation und seelenlose Sinnlichkeit – Zeugnis für die Inferiorität der Schöpfungsgewalt des gefallenen Engels, der sich in entarteten, paramenschlichen und paratierischen Gestalten in die wahre, göttliche Schöpfung einschleicht, um den Heilsplan zu verstören.[9]
In meinem Aquarell „Verklärung“ von 2012 entschwebt ein poppiger Christus einem seiner halbtierisch-halbmenschlichen mythologischen „Ahnen“, hier einem „Wolfsmensch“, der als Werwolf, ursprünglich ein fruchtbringender Naturdämon, heute depotenziert wird zum hyperrealistischen Kino-Monster.
Schönheit als An-Ästhetik
Schönheit ist nie verabschiedet, sondern nur, wie Wolfgang Welsch sagt, „umdefiniert worden“ [11]. Er führt zu Recht Baudelaire an, der die Schönheit Satans pries, zu einer Zeit, als letzterer schon längst von der Aufklärung außer Dienst gestellt und ins Reich der Fabelwesen verwiesen worden war. Einige Jahrzehnte später konnte der Teufel nicht mal mehr das ramponierte klassische Schönheitsideal satanisch aufpolieren. Stattdessen entdeckte man den wahren Glanz, nämlich den der Maschinen, insbesondere des „Rennwagen“, den der Chef-Futurist Marinetti in seinem berühmten Manifest von 1909 weit über die Nike von Samothrake stellte:
Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . .. ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
Dass er im selben Pamphlet den Krieg als „einzige Hygiene der Welt“ verherrlicht sowie den Militarismus, den Patriotismus, den Anarchismus und die „Verachtung des Weibes“ noch draufsattelt, mag man den ideellen Wirren kurz vor dem ersten Weltkrieg zuschreiben, allein, die Wirkung dieser und ähnlicher „Manifeste“ auf die Künstler und Intellektuellen kann gar nicht überschätzt werden. Der klassische Konnex des Schönen mit dem Wahren und Guten steht und fällt mit der Vorstellung einer ideellen oder (und) göttlichen All-Harmonie, die von der Neuzeit auf den Müll der Geschichte geworfen wurde. Versuche zur Substitution des Guten-Wahren-Schönen sind notwendigerweise fehlgeschlagen und es ist auch nicht zu erwarten, dass dies irgendwann gelingt. Uns bleibt die Erinnerung…[12]
Heute geht es um eine vermischte Schönheit der Differenz, der Alterität, der Nicht-Identität, kurz, um eine „An-Ästhetik“, wie sie Wolfgang Welsch bezeichnet[13].
Das Hässliche ist genauso wenig „wahr“ wie das Schöne.
Beides sind Fiktionen.
Die evolutionäre Bedeutung des Schönen kann nur dann irgendeine Bedeutung für das Schöne haben, wenn die evolutionäre Bedeutung der Kultur geklärt ist. Und da scheiden sich die Geister. Also ist die Debatte um die evolutionäre „Wahrheit“ des Schönen entweder eine Geister-Debatte oder der schon seit der Antike fehlschlagende Versuch, partikulare naturwissenschaftliche „Wahrheiten“ für das Ganze zu reklamieren[14].
Es gibt aber keine Wahrheit des Ganzen, weil es das Ganze nicht gibt.
Die Macht der Schönheit wird überschätzt. In dieser Überschätzung besteht die Macht der Schönheit.
Die Schönheit ist eine Schimäre.
Den Anfang nahm die Wortgeschichte von Schimäre beim altgriechischen χίμαιρα (chímaira) (Ziege). Großgeschrieben stand das Wort als Χίμαιρα für ein feuerspeiendes Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, das in seiner Körpermitte einer Ziege ähnlich war. Vorne entsprach es einem Löwen, hinten einem Drachen. Hieraus wurde das lateinische chimaeraund im Französischen entwickelte sich chimère. Das Wort tauchte im Deutschen zunächst in seiner lateinischen Gestalt auf und wurde im 16. und 17. Jahrhundert auch noch lateinisch dekliniert, bevor im 18. Jahrhundert die deutsche Flexion des Wortes aufkam. Möglich ist, dass hierbei das Französische vermittelt hat. Die Übertragung der Bedeutung vom Fabelwesen auf Hirngespinst und Trugbild beruht auf Vergleichen mit einer Chimäre, durch die ausgesagt wurde, dass etwas genauso unwirklich sei wie jenes Fabelwesen.
(Wiktionary: Schimäre)
Also wäre das Schöne immer das Hässlich-Schöne?
(Eine „Wahrheit“, die schon Baudelaire erkannt hat)
Computer als Totemtier
Elisabeth von Samsonow spricht in ihrem Essay über Totemismus und Medien davon, dass anhand früher Bestattungsriten, „die sowohl an Menschen wie an Tieren geübt wurden“, vor allem der Schluss gezogen werden kann, dass „das Tier in der Lage ist, den Menschen zu doubeln, als sein Klon zu walten“ [15]. Damit sei neben neben den Verhältnissen Mensch-Mensch und Mensch-Apparat in ein drittes ans Licht zu bringen, das von einer „unheimlichen Verwechslung von Du und Ding“ beherrscht werde, nämlich in das, „bisher in der aktuellen Diskussion nicht hinreichend kritisch platzierte Paar, das von einem Menschen und einem Tier gebildet wird“. Dieses Totemtier ist weder ein gewöhnliches Wild noch ein Nutz- oder Haustier (auch kein noch so schnuckeliges), sondern (so schwierig oder unmöglich eine klare Definition zu sein scheint) nichts anderes als das Alter Ego des Menschen.
Somit waren die ersten Götter tiergestaltig oder – besser gesagt – sie beherrschten die Verwandlungen ins Tier: Eber, Stier, Schwan etc. Für Elisabeth von Samsonow entwickelt sich das ursprüngliche Tier-Sein zu einer Favorisierung der „ungewöhnlich geschönten Gestalt des Menschen“, in deren Gestalt nun die neuen Götter erscheinen, ohne allerdings ganz ihre tierische Vergangenheit abgeworfen zu haben.
In der Tat wird dieser Wechsel als eine alles verändernde Revolution angesehen werden müssen, als das Auf-den-Weg-Bringen eines neuen Menschheitsexperiments, das statt des Tieres den Übermenschen anvisiert.[16]
Dieser Wechsel sei alles andere als einfach gewesen. So mussten Opfer- und Erlösungsriten und –vorstellungen neu definiert werden. Insbesondere dissoziiere sich der menschenförmige Gott zu einem „fremden, ja unbekannten Gott“ bei Dionysius Aeropagita und zum einem göttlichen Nichts in der negativen Theologie:
Dieser Gott besitzt also von ihm nicht integrierte Anteile an Fremdheit und Andersheit, die nun…in ein
dissoziertes Projekt eingehen. Das dissoziierte Projekt schlechthin dieser Hochtheologie ist die Maschine oder der Apparat.[17]
In diesem Zusammenhang wäre an die Entwicklung der Zentralperspektive und in deren Weiterführung an die camera obscura und schließlich den fotografischen Apparat zu denken. Dort, wo die Gottheit sich jedoch entzieht, schafft man ein zauberisches Ding als ihren Stellvertreter: „d.h., dass auf den Apparat jene Projektion auftritt, die zuvor von einem höheren Fremdartigen aufgefangen worden war, nämlich dem Tier:
Die Ebene, auf der das Totemtier auftritt, ist diejenige, auf der Welt erscheint, die Welt, die man hat und von der man gehabt wird, allerdings verschwommen, verwischt, in Fältchen. Die formalen Bestimmungen, denen das Totemtier auf dem Horizont der verworrenen Perzeption gerecht wird, können auch von anderen Subjekten oder Objekten erfüllt werden, sofern sie keine ausgeprägte Menschenförmigkeit aufweisen: Die Herbstimmung (oder Regression) bei gleichzeitiger hypnotischer Fokussierung des Bewusstseins und das Eröffnen oder besser gesagt: Erleiden von Welt im weitesten und universalen Sinn…wird auch durch einen gewöhnlichen Online-Computer erreicht.[18]
Laut von Samsonow habe die mangelnde Tierhaftigkeit der Gottheit den Apparat gefordert, der nun als schöner starker Apparat am Ende den Gott verdrängt, ziehe aber das Tier wieder nach, allerdings als schwaches, als kitschiges, als unterworfenes oder verrückt gewordenes Tier, das „neuerdings wieder die Zivilisation aufsucht, indem es aus den Tiefen der Apparate auftaucht und den Inhalt von deren Sendung bildet und somit den zurückstrahlenden leeren Oberflächen ihr Gesicht leiht“ [19].
Sind wir also wieder auf den Hund gekommen?
[1] Madame Leprince de Beaumont, Die Schöne und das Tier, Frankfurt 1977, S. 42
[2] Im „Goldenen Esel“ von Apuleius wird der Held, Lucius(!), in einen Esel verwandelt und erst nach langen Irrungen und Wirrungen durch die Lichtgestalt der göttlichen Isis in einer nächtlichen Zeremonie wieder zu einem Menschen.
[3] Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 324f
[4] Sigmund Freud, Das Unheimliche
[5] Georges Bataille, Masken, in: Daniel Arasse, Bildnisse des Teufels, Berlin 2012, S. 71
[6] Ibid. S. 72
[7] Ibid. S. 73
[8] Georges Bataille, Die Erotik, München 1994, S. 31
[9] Hans-Richard Brittnacher, Ästhetik des Horrors, Frankfurt 1994, S. 188
[10] Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 4
[11] Wolfgang Welsch, Wiederkehr des Schönen, in: Haustein/Stegmann (Hrsg.), Schönheit, Göttingen 2006, S. 41
[12] Dass Erinnerung nicht nur Melancholie angesichts des Vergangenen, sondern auch ein produktives Vermögen sein kann, zeigt Paul Ricoeur, etwa in: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004
[13] Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: W.W. Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 9ff
[14] Siehe dazu Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt 2003
[15] Elisabeth von Samsonow, Was ist anorganischer Sex wirklich, Köln 2005, S. 15
[16] Ibid. S. 20
[17] Ibid. S. 23
[18] Ibid. S. 30
[19] Ibid. S. 33
(2013)