Künstler und Text
Es gibt Künstler, die sagen wenig und arbeiten viel, es gibt Künstler, die arbeiten wenig und sagen viel, es gibt Künstler, die arbeiten wenig und sagen wenig, es gibt Künstler, die sagen viel und arbeiten viel; ob sie allerdings viel zu sagen haben, steht auf einem anderen Blatt, bzw. auf mehreren oder sogar vielen Blättern – ja, manchmal tun sie’s gar nicht ohne eine veritable Ästhetik. In der aktuellen Urheberrechtsdiskussion wurde dafür der unschöne, aber funktionelle Begriff der „Fundamentalkonzeption“ eingeführt.
Leider bin ich davon noch weit entfernt, auch deshalb, weil mir die Kunst allgemein und meine insbesondere immer weniger mit einer soliden Architektur mit klassischem Tragen und Lasten vergleichbar scheint, auf deren sicheren Fundamenten man dann eine Welt, wenn nicht für die Ewigkeit, so doch für die Zeit erbauen könne. Stattdessen sehe ich mich von „Blasen“, von „Schäumen“, von „Rhizomen“, von „Texturen“, von „Netzen“ umgeben, deren fragiler, meistens nur temporärer Zusammenhalt anstatt fester Verbindungen, von fließenden Übergängen, von shift und drift, von plastischen und elastischen Materialien geleistet wird. Gleichzeitig ermöglichen die modernen bildgebenden Verfahren diagnostische Mikro- und Makroanalysen, die uns unsere nächsten und entferntesten Welten nahebringen, nicht selten mit der Folge, unserem großartigen aber hinfälligen Corpus eine weitere „Zeit, die bleibt“ auf dieser Erde zu ermöglichen, einer Erde, deren „Herstellung“ nach den Worten des Denkers „heißt: sie ins Offene zu bringen als das Sichverschliessende“. Jener , nach einem Wort von Emmanuel Levinas, „leider“ größte Denker des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger, der „Meister aus Deutschland“, versichert uns, dass der Mensch als Transzendental-Landwirt, indem er sein „Haus des Seins“ baut, gleichzeitig als Künstler im Werk eine Welt aufstellt“. „Welt und Erde seien zwar voneinander verschieden, aber niemals getrennt, dennoch sei das Gegeneinander von Welt und Erde ein Streit. Denn:
Die Erde kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten Andrang ihres Sichverschliessens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen Geschicks sich auf ein Entscheidendes gründen.
Präziser ausgedrückt:
Indem das Kunstwerk eine Welt aufstellt und die Erde herstellt, ist es eine Anstiftung dieses Streits. Aber dieses geschieht nicht, damit das Werk den Streit in einem faden Übereinkommen zugleich niederschlage und schlichte, sondern damit der Streit ein Streit bleibe.
Bleibt nur noch die Frage, inwieweit „in der Bestreitung des Streites von Welt und Erde die Wahrheit geschieht? Was ist Wahrheit?“
Wenn sie von mir eine bündige Antwort darauf erwarten, möglichst noch mit dem gar nicht diskreten Hinweis auf das eigene Werk, muss ich Sie jetzt schon enttäuschen. Aber keine Sorge, sollte der Meisterdenker doch in seinem kryptischen Spätwerk behaupten: „Das Wesen der Wahrheit ist die Un-Wahrheit“
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„Wahrheit“, „Unwahrheit“, „Sich-verschliessendes Offenes“ „Bestreitung des Streites“ – „Papperlapapp!“ Ruft mir der Connaisseur des globalisierten Kunstbetriebs zu: „Maler, male und schreibe nicht! Sei radikal oberflächlich und kommerziell.“ „Ob künstlich oder natürlich, ob verschwommen oder scharf, man kann dann in deiner Kunst sehen, was man will“. Wenn schon nicht für das Image die coole Business-Attitude drin ist, dann wenigstens der Haut-gout des Satanischen (oder am besten beides). „Austin Powers’ Dr. Evil als Künstler!“ Leider bin ich nur ein Dr. phil, aber ich bemühe mich sehr, es wenigstens noch zum „magister satanicus“ zu bringen.
Die Kunst mag in den letzten zweihundert Jahren an ihren Grundfesten nicht nur gerüttelt, sondern sie sogar bis hin zur Selbst-Preisgabe zerstört haben, sie mag in alle möglichen „Erweiterungen“ und Hybridisierungen diffundiert sein, ja sie mag sogar Texte zur Kunst erklärt haben, das Verdikt über die Selbst-Reflexion des Machers über sein Mach-Werk hat alle Tabubrüche überlebt, durchaus sanktioniert von den bedeutendsten Tabubrechern eben jener Epoche, nämlich der Moderne, die wie keine zuvor eine wahre Explosion der Künstler-Selbst-Deutungen und Künstler-Selbst-Apotheosen erlebte.
Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Texte von Künstlern der Moderne zu ihrer Kunst zumindest zum Teil die Ikonographie früherer Kunst ersetzen. Trotzdem ist dabei zu berücksichtigen, dass die Ikonographie eine gewisse kulturelle Gültigkeit hatte, also vom Künstler bzw. dessen Auftraggeber zwar individuell variiert, jedoch nicht kraft subjektiver Setzung beliebig neu konzipiert werden konnte. Demgegenüber zeichnen sich gerade die Künstler-Manifeste der Klassischen Moderne durch jeweils letztgültigen und absolut neuen Anspruch aus.
Selbst bei kursorischer Durchsicht der modernen Künstlertheorien fällt auf, dass auch extreme Ich-Darsteller wie Salvador Dali ihre diversen künstlerischen Revolten letztlich nicht auf subjektive Beliebigkeiten gründeten, sondern immer im Sinne einer „höheren, eigentlichen“ Wirklichkeit argumentierten, also mit einem Wahrheitsanspruch auftraten, als dessen Manifestation sie ihre Kunst ausgaben. Und das mit Erfolg, was die Durchsetzung noch fast jeder Avantgarde-Bewegung auf dem Kunstmarkt und schließlich innerhalb der Kunst-Öffentlichkeit dokumentiert.
Peter Bürger hat gezeigt, dass die vielbeschworene und viel gescholtene Autonomie der Kunst letztlich eine „Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ sei, basierend auf den ästhetischen Theorien von Kant und Schiller. Sie sei gekennzeichnet durch Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen, wie aus der Religion oder der aristokratischen Welt. Die europäischen Avantgarde-Bewegungen seien nun durch den Angriff auf den bürgerlich-autonomen Status der Kunst gekennzeichnet mit dem Ziel, der Kunst eine neue Lebenspraxis zu organisieren bzw. sie darin zu überführen. „Diese hat nicht stattgefunden“, stellt Bürger zu Recht fest und meint – nachdem er auf solch „falsche Aufhebung“ in Unterhaltungsliteratur und Warenästhetik hingewiesen hat – dass die Distanz der Kunst zur Lebenspraxis ihr erst den Freiraum garantiert, der Alternativen zum sogenannten „Bestehenden“ aufzeige. Bürger nimmt damit Bezug auf den bedeutendsten Philosophen und Soziologen der „Kritische Theorie“, Th. W. Adorno, insbesondere auf dessen ästhetische Schriften.
Inzwischen scheint es möglich, seine Theorie, die einst Kultstatus genoss, selbst aus einer kritischen Warte zu diskutieren. Ein Beispiel dafür liefert Peter Sloterdijk in seinen „Notizen über kritische und übertriebene Theorie“, wenn er feststellt, dass aufgrund von Adornos Messianismus seine Theorie eher der Religionsphilosophie als der Soziologie zuzurechnen sei. Er unterstellt Adorno deutliche gnostische Tendenzen, spricht von einer „zweiten Soteriologie“, einer „Erlösung-als-ob“.
Anwesenheit
"In erster Linie gibt das Bild der Anwesenheit statt, es ist die Art der Präsenz, Mach- und Stoffart der Präsenz" stellt Jean-Luc Nancy fest. Doch ist im Bild nicht immer etwas präsent, was eben nicht da ist? Nancy spricht deshalb von der Quadratur des Kreises. Doch was ist es, was im Bild gleichzeitig da und nicht da ist, wie die Edamer Katze in der Wunderwelt von Alice?
Hat man nicht im Westen seit zweieinhalbtausend Jahren von einem Bild und einem Urbild und einem Abbild und von einem Wesen und von dessen Erscheinung gesprochen? Was ist das Wesen der Erscheinung der Edamer Katze? Was illustrieren die Karten-Menschen im Wunderland hinter den Spiegeln? Doch wer sagt, dass hier etwas illustriert wird? Haben wir es hier nicht mit einer Parallelität von Bild und Text zu tun? Und diese Illustration illustriert gar nichts, sondern schafft erst ein Bild, das wir in unserem Gehirn parallelisieren mit anderen Bildern, die sich beim Lesen des Textes einstellen. Was heißt: Lesen?
Aus solchen Fragestellungen heraus haben die postmodernen Theoretiker Begrifflichkeiten geschaffen, wie Gilles Deleuze in der Vorstellung des "Rhizoms", das eigentlich ein unterirdisches Geflecht von Pflanzen bezeichnet. Für Nancy sind„Bild“ und „Text" ebenfalls ein solches Rhizom:
Das Bild gestattet dem Text also Anwesenheit, sofern Sie unter "Text" eine Aneinanderreihung, ein Sinngeflecht verstehen. Der Sinn besteht einzig in der Knüpfung, in der Textur bzw. im Gewebe. Der Text ist textil, er ist der Stoff des Sinns.
Anwesenheit wird gewöhnlich mit Präsenz übersetzt. In Präsenz steckt das lateinische "esse", also "sein", worauf auch das "Wesen" zurückgeht: "wesan" heißt im Althochdeutschen ebenfalls "sein". Durch die Präpositionen wird in beiden Begriffen eine Aktivität verdeutlicht: Das Sein wird nach vorne gebracht, es "west" an – und bleibt da auch.
Diese ganzen textilen Verflochtenheiten werden weiter verstärkt, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Herkunftswortes der Malerei pingere, pictura klar macht. Nancy macht darauf aufmerksam, dass pingere zunächst "mit Farbfäden weben" oder auch "tätowieren" heißt.
Text und Bild haben ein gemeinsames etymologisches Substrat, eben die Textur, das Gewebe, die Färbung, die Einschreibung und die Einritzung. Doch darf diese Überleitung nicht nur formal aufgefasst werden, so als habe sich aus einem frühen vagen Tasten und Tappen langsam der Sinn, der Inhalt heraus-gebildet, vielmehr macht jedes Bild "aus dem Absens ein Präsens". Aber auch das Sagen, die Rede, der Text bringt uns immer ein Bild vor Augen: Wenn ich sage: Eine Blume, so präsentiere ich laut Nancy, das Sagen mit dem Gesagten. Das Bild sei so greifbar wie das Sagen des Gesagten ungreifbar. Das Sagen der Blume reiht, je nach Zusammenhang, also Textur, Bilder aneinander wie "Blüte", "Blühen", "Verwelken", "Flora" oder "Flamme" oder andere "Abwesenheiten". Kein Sagen gäbe es, das nicht auf irgendeine Weise gebildet wäre.
Ausgehend von der Bedeutung von imago als das Bildnis der Abwesenden, der Toten, zeigt Nancy, dass imago die Absenz webt und bildet:
Das Bild präsentiert...die Absenz. Die Abwesenden sind nicht da, sind nicht im Bild. Aber sie sind gebildet: ihre Abwesenheit ist in unsere Präsenz eingeflochten. Der leere Platz des Abwesenden wie ein Platz, der nicht leer ist: das ist das Bild.
„Das Bild selbst wird zum Körper des Wortes. Es gibt eine ganze geheime Theologie der Transsubstantiation, der Fleischwerdung und der Kommunion...nehmet und berühret, esst mit den Augen, dies ist mein Sinn, der für euch hingegeben wird und in der Malerei auferstehen wird. Zinnoberrot vergossenes Blut des Sinns".
Bild und Inkarnation
Wo andere mit Farben malen, male ich mit Ideen.
Deshalb ist die Aneignung („Appropriation“) von Vor-Bildern unabdingbar. Letztlich ist die Kunst bis in die modernste immer von der Verbildlichung von etwas „an sich“ ausgegangen – und sei es das Nichts selbst. Ich dagegen male und collagiere nicht über ein Anderes, sondern präsentiere das Andere, in der Hoffnung, dass in der Montage der Gehalt überschießt.
Meine gemalten und geklebten und digitalisierten Collagen sind strukturell nichts anderes als „Gemalte Installationen“.
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„Nur das Bild kann inkarnieren“, sagt Marie-Jose Mondzain:
Dieses christliche Denken hat zum ersten Mal eine Legitimität des Bildes geschaffen, und zwar nicht nur, indem es das Bild von seiner tödlichen und verstörenden Potenz befreite, sondern auch, indem es ihm eine rettende, ja sogar erlösende Macht verlieh. Nicht allein, dass das Bild sichtbar ist und das Gegenüber nicht mehr tötet (wie die Gorgo Medusa) – das Bild bewirkt eine Läuterung von den Mächten der Finsternis. Es ist nicht mehr wie bei den Griechen das Wort der Tragödie, sondern das Bild, das die Gewalt all unserer Leidenschaften eindämmt. Nur das Bild kann inkarnieren – das ist der wichtigste Beitrag des christlichen Denkens…Da die Inkarnation Christi nichts anderes ist als das Sichtbarwerden von Gottes Angesicht, ist die Inkarnation nichts anderes als das Bildwerden des Undarstellbaren…Das Bild verleiht einer Abwesenheit Fleisch, das heißt Karnation und Sichtbarkeit in unüberwindlichem Abstand zu dem, was bezeichnet wird.
Die Sichtbarmachung des Abwesenden durch etwas Anwesendes ist beileibe kein Kinkerlitzchen. So war es Aristoteles, der darauf hingewiesen hat, dass darin das Wesen jeglicher Erinnerung und Vergegenwärtigung besteht. Diesem Komplex von Vergessen, Erinnern und Erkennen auch in und mittels Bildern hat der jüngst verstorbene französische Philosoph Paul Ricoeur einen großen Teil seines Lebenswerks gewidmet:
Ich halte lediglich fest, das sich das Rätsel der bildlichen Gegenwart einer abgeschlossenen Vergangenheit durch die Idee der Spur noch verdoppelt: alle Spuren sind ja in der Gegenwart, und es liegt an dem sie interpretierenden Denken, dass die Spur für eine Spur von…gehalten wird…und damit den höchst paradoxen Status erhält, Effekt eines auslösenden Impulses zu sein, dessen Zeichen sie (die Spur) zugleich sein soll: eine Wirkung, die Zeichen ihrer Ursache ist – darin liegt das Rätsel der Spur.
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Der italienische Philosoph Mario Perniola hat die Basis der zeitgenössischen Kunst in „tieferen Ahnungen“ ausgemacht, die von einem Ultra-Naturalismus ausgeprägt seien, der „fern jeder Transzendenz“ stehe; geprägt von einer von Ekel und Abjektion (Lust am Gemeinen, Niedrigen) durchdrungenen Sensibilität.
Die französische Soziologin Nathalie Heinich stellt gegenüber der Kategorie des Werks der klassischen Moderne das zeitgenössische Paradigma heraus, deren "künstlerischer Wert in der Gesamtheit der Verbindungen liege – Diskursen, Aktionen, Netzen, Situationen, Sinneffekten – die um ein Objekt herum oder von einem Objekt ausgehend hergestellt werden, das lediglich ein Anlass, ein Vorwand oder Übergangspunkt sei".
Für den heutigen Künstler könnte sich diese Diagnose so darstellen, dass er sich gänzlich im Reich des "Immateriellen", darin einer berühmten Losung von Lyotard folgend, bewegt – und gar nichts mehr Werkhaftes schafft, sondern nur noch denkt und imaginiert, um sich in die Prominenz der „Philosophen-Künstler“ einzureihen! Er könnte sich darin sogar auf einen berühmten Ursprungstext der klassischen Moderne berufen, nämlich Balzacs "Unbekanntes Meisterwerk" und auf dessen Protagonisten, den Maler Frenhofer, in dem sich etwa Cezanne wiedererkannte.
In der kurzen Erzählung Balzacs wird der junge Poussin mit einem alten Maler, eben jenem Frenhofer, konfrontiert, in deren Verlauf Poussin nach langen theoretischen Exkursen Frenhofers über die Aktmalerei endlich dessen strengstgehütetes Geheimnis, nämlich das Aktgemälde, an dem der Meister seit zehn Jahren „arbeitet“, besichtigen darf. Er sieht aber außer einem Fuß und einigen Linien auf dem Gemälde – nichts! Nachdem sich Poussin und sein Begleiter, der Maler Porbus, endlich zu dieser schlichten Feststellung durchgerungen haben, verabschiedet sie Frenhofer und stirbt in derselben Nacht, "nachdem er seine Bilder verbrannt hatte".
Natürlich hat Balzac mit dieser Erzählung die Krise der Malerei und den "Tod des Subjekts" in genialer Weise vorhergesehen – allein mich fasziniert am "Unbekannten Meisterwerk" am meisten dessen Diskurs über das Inkarnat. Lassen wir den Meister (Frenhofer) in seiner diesbezüglichen Künstlerschelte selbst zu Wort kommen:
Und weil ihr von Zeit zu Zeit eine nackte Frau betrachtet,... glaubt ihr, Maler zu sein und Gott sein Geheimnis entwendet zu haben...trotz aller lobenswerten Bemühungen vermag ich nicht zu glauben, dass dieser schöne Körper vom warmen Odem des Lebens beseelt sein soll...unter dieser elfenbeinfarbenen Haut fließt kein Blut...viele Stellen des Bildes sind von der göttlichen Flamme nicht berührt worden.
Produktion und Reproduktion
Nach Boris Groys wäre die Dialektik von Wahrheit und Neuheit folgendermaßen zu fassen: der frühere Neuerer in Kunst und Theorie strebte nach universeller Anerkennung seiner Ideen und hatte "panische Angst davor, dass sie sich als unwahr, irrig und falsch" herausstellen könnten und somit für die Zukunft verloren wären, während der heutige Autor "empört wäre, wenn man seine neuartige Methode als universelle Wahrheit ausgeben würde", da er damit seine "eigene kulturelle Originalität" bedroht sähe. Groys sieht hier einen Gegensatz zum früheren Streben nach "Originarität, die verstanden wurde als Nähe zum Ursprung und Übereinstimmung mit einer außerkulturellen Wirklichkeit"
Was läge also näher, diese Aussage mit einer entsprechenden von Heidegger zu konfrontieren, einem der prominentesten Vertreter jenes Ursprungspathos, das die ganze Moderne wie ein roter Faden durchzieht, von Nietzsches antiplatonischer dionysischer Kultur der Vornehmheit über die emphatische Vereinnahmung außereuropäischer Ethnien bis hin zu Beuys' transgressiver Verklammerung von imaginierter Prähistorie und Utopie. So fragt Heidegger "Weshalb ursprünglichere Wiederholung des ersten Anfangs?" unter der Überschrift "Warum das Denken aus dem Anfang":
Weil nur das größte Geschehen, das innigste Ereignis, uns noch retten kann aus der Verlorenheit in den Betrieb der bloßen Begebenheiten und Machenschaften. Solches muss sich ereignen, was uns das Sein eröffnet und uns in dieses zurückstellt und so uns zu uns selbst und vor das Werk und Opfer bringt. Nun aber ist das größte Ereignis immer der Anfang und sei es der Anfang des letzten Gottes...Der Anfang ist das Seyn selbst als Ereignis, die verborgene Herrschaft des Ursprungs der Wahrheit des Seienden als solches. Und das Seyn ist als das Ereignis der Anfang.
Dieser "apokalyptische Grundton" Heideggers fasziniert und irritiert, was nicht zuletzt der Grund ist, warum sich insbesondere seine nachgelassenen "Beiträge zur Philosophie" massiv in das Archiv des 20. Jh. eingeschrieben haben. Es fällt auf, dass er von einer "Wiederholung" von Ursprung und Anfang in Zusammenhang mit "Werk und Opfer" spricht. Ist hier nicht auf fundamentaler Ebene das Paradox von Produktion und Reproduktion formuliert?
Dieser Dialektik eingedenk, macht es sehr wohl Sinn, wenn Groys feststellt, dass "jeder Autor stets mit Zitaten aus der bereits bestehenden Kultur arbeitet", was es erst möglich mache, die "innerkulturelle Originalität der eigenen Arbeit ausdrücklich zu demonstrieren"
Eine weitere Aktualisierung von Produktion und Reproduktion finden wir in einem berühmten Ursprungs-Bild-Text der Moderne, Aby Warburgs „Mnemosyne – Bildatlas“, der aus 79 Tafeln besteht, auf denen Warburg zu bestimmten kunsthistorischen Themenkomplexen Abbildungen von Bildwerken angebracht hat, die von der Antike bis zur Gegenwart (1929) reichen. Verglichen mit heutigen drucktechnischen Standards erscheinen diese Schwarz-Weiß-Abbildungen, die noch dazu nur als abfotografierte Tafeln auf uns gekommen sind, in ihrer Qualität eher mäßigen Fotokopien vergleichbar. Der Atlas sollte nach Warburgs eigenen Worten „in seiner bildmaterialen Grundlage zunächst nur Inventar sein“ des Weiterlebens der Antike in der Renaissance und in der modernen Werbung. Ist letzteres vor allem für einen Kunsthistoriker des frühen 20. Jahrhunderts schon revolutionär genug, so gewinnt Warburgs zeit- und raumübergreifender kulturdynamischer Ansatz insbesondere unter dem Aspekt der „Leitwissenschaft“ der letzten zehn Jahre, der Kulturgeschichte, eine Bedeutung, die, soweit ich sehe, zur Zeit erst ausgelotet wird.
Warburg war davon überzeugt, dass der menschliche Ausdruckswille zwischen den Polen der „Sophrosyne“ (Besonnenheit) und der „Ekstase“ schwingt:
In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, dass diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriss bestimmen, den die Künstlerhand schafft.