Nach dem Weltbild
Heidegger verdanken wir eine profunde Problematisierung der Geschichtstheorie, die für die Zeitalter seit Platon bis Nietzsche als gemeinsame Grundlage die Metaphysik annimmt. Letzterer habe diese sowohl über sich hinausgetrieben als auch Perspektiven für ein Neues aufgezeigt, die um die Idee des Nihilismus kreisen.
In der „Zeit des Weltbildes“ beschreibt Heidegger fünf „wesentliche Erscheinungen der Neuzeit“: Wissenschaft; Maschinen-Technik; Kunst als Ausdruck des Lebens des Menschen; Kultur als Ausdruck der „höchsten Güter“ des Menschen (Anthropologie!) sowie die „Entgötterung“. Letztere sei einerseits durch die „Verchristlichung des Weltbildes“ gekennzeichnet, „insofern der Weltgrund als das Unendliche, das Unbedingte, das Absolute angesetzt wird“ und andererseits durch die Umdeutung des Christentums zur „Weltanschauung“. Daraus seien dann „die Götter entflohen“ und „die so entstandene Leere werde durch religiöses Erleben wie durch wissenschaftliche Erforschung des Mythos“ angefüllt.
Des Weiteren entwirft Heidegger den „metaphysischen Grund, der die Wissenschaft als neuzeitliche begründet“, um von da aus zum „Wesen der Neuzeit“ zu gelangen.
Wissenschaft „als Auslegung der Wahrheit“ sei bestimmt durch eine seit den Griechen über das christliche Mittelalter sich entwickelnde zunehmende „Vergegenständlichung des Seienden“:
Erst jetzt können wir nach dem neuzeitlichen Weltbild fragen. „Welt“ umfasst nach Heidegger nicht nur den Kosmos, die Natur, sondern auch die Geschichte und den „Weltgrund“. Weltbild meint nicht nur „ein Gemälde, ein Abbild des Seiendem im Ganzen“, sondern analog der Redewendung „Wir sind über etwas im Bild“ „dass es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht.
Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen.
In diesem Sinne könne weder im Mittelalter von einem Weltbild gesprochen werden, da hier das Seiende, von einem persönlichen Schöpfergott geschaffen, niemals als Vergegenständlichung in den Verfügungsbereich des Menschen gestellt sei noch in der Antike, da dort, in der „großen griechischen Zeit“ es das „Wesen des Menschen“ sei: „Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet“. Allerdings sei durch den platonischen Begriff des „eidos“ als Bild und Urbild, herkommend von „Aussehen, Anblick“ und hinführend zur „idea“, die „weit vorausgeschickte, lang im Verborgenen mittelbar waltende Vorraussetzung dafür gegeben, dass die Welt zum Bild werden muss“.
Der Mensch setzt sich in der Neuzeit ins Bild, als „eigens von ihm ausgemachtes“. Erst jetzt wird er zum „Subjekt“, das „sich selbst und eigens als das Neue setzt“.
Neu zu sein gehört zur Welt, die zum Bild geworden…
Je umfassender nämlich und durchgreifender die Welt als eroberte zur Verfügung steht, je objektiver das Objekt erscheint, um so subjektiver, d.h. vordringlicher erhebt sich das Subjectum, um so unaufhaltsamer wandelt sich die Welt-Betrachtung und Welt-Lehre zu einer Lehre vom Menschen, zur Anthropologie.
In der „Eroberung der Welt als Bild“, „im Kampf der Weltanschauungen“, in „der uneingeschränkten Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge rase die Neuzeit mit einer für alle Beteiligten unbekannten Geschwindigkeit ihrer Wesenserfüllung zu“.
Ein Zeichen für diesen Vorgang ist, dass überall und in den verschiedensten Gestalten und Verkleidungen das Riesenhafte zur Erscheinung kommt. Dabei meldet sich das Riesige zugleich in der Richtung des immer Kleineren. Denken wir an die Zahlen der Atomphysik. Das Riesige drängt sich in einer Form vor, die es gerade verschwinden lässt: in der Vernichtung der großen Entfernungen durch das Flugzeug. Im beliebigen, durch einen Handgriff herzustellenden Vor-stellen fremder und abgelegener Welten in ihrer Alltäglichkeit durch den Rundfunk.
Nicht zuletzt auf diese Stelle bezieht sich der General-Titel, unter den ich meine künstlerische Arbeit gestellt habe: MIKRO-MAKRO.
Doch gerade dadurch gewinne das geplante Riesenhafte den unsichtbaren Schatten des Unberechenbaren, „der um alle Dinge überall geworfen wird, wenn der Mensch zum Subjectum geworden ist und die Welt zum Bild“.
Die Mathematik ist für Heidegger in Verbindung mit der wissenschaftlichen Physik "die maßgebende neuzeitliche Wissenschaft".
Aber die mathematische Naturforschung sei nicht deshalb exakt, weil sie genau rechnet. sondern sie müsse so rechnen, weil die Bindung an ihren Gegenstandsbereich den Charakter der Exaktheit habe. Zur Wissenschaft als Forschung komme es erst dann, wenn das Sein des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht werde, wenn also Natur und Geschichte und damit der Mensch selbst zum vorausberechenbaren Gegenstand erklärt werden.
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Das neuzeitliche Weltbild ist zur aktuellen Über-Fülle der Weltbilder geworden. Voraussetzung ist der Rahmen als leuchtender Schirm, als screen, dessen Struktur von unendlicher Durchlässigkeit ist, eine Mega-Transparenz also. Was man von der mittelalterlichen Kathedrale festgestellt hat, ihre diaphane Struktur, lässt sich, allerdings nun globalisiert, auf die Welt derPCs übertragen: Selbst das Profanste, Intimste ist diaphan geworden, aber auch mittels Internet das Fernste und Unnahbarste. Benjamins festgestellte Sehnsucht des technischen Menschen nach permanenter Naherückung des Fernsten ist in einer für ihn wohl nie vorhersehbaren Weise Wirklichkeit geworden.
Was einst im Bereich der Kunst, die ursprünglich "nur" ein Teil der techne war, mittels göttlicher Inspiration, wie schon Platon bemerkt, dem Künstler vermittelt wurde, wird nun programmiert, um als photo-shop allen usern verfügbar zu sein.
Das Transparenz-Instrument in den diversen Grafik-Programmen ist die technische Basis meiner Kunst. Selbst da, wo ich, wie in den Geklebten Collagen, einzelne eigenständige Bilder nebeneinandersetze ist sowohl dadurch wie auch durch die Übermalungen das Prinzip der Transparenz gewahrt. Diese ist jedoch nicht nur eine Errungenschaft der Digitalen Welt unter vielen anderen, sie ist deren zentrales und letztliches Prinzip. Nach Heideggers Analyse wäre dieser zur Wirklichkeit verfestigte Schein aber lediglich eine bestimmte Art und Weise, die Wahrheit des Seienden in die "Unverborgenheit" (aletheia) zu bringen. Heideggers komplexes Technikverständnis kann hier nur angedeutet werden, wenn er sagt:
Indem der Mensch die Welt technisch als Gegenstand aufbaut, verbaut er sich willentlich und vollständig den ohnehin schon gesperrten Weg in das Offene. Der sich durchsetzende Mensch ist, ob er es als einzelner weiß und will oder nicht, der Funktionär der Technik. Er steht nicht außerhalb des Offenen...sondern in einem Ab-schied gegen das Offene...Was den Menschen in seinem Wesen bedroht, ist die Willensmeinung, durch eine friedliche Entbindung, Umformung, Speicherung und Lenkung der Naturenergien könne der Mensch das Menschsein für alle erträglich und im ganzen glücklich machen.
Heidegger deutet jedoch in seinem 1946 gehaltenen Vortrag "Wozu Dichter" an, dass die Kunst die Gefahr des "Heillosen" durch die Darstellung des "Heillosen" in den Blick nehmen könne. Abgesehen davon, dass irgendwann durch eine opportunistische Überfülle des Heillosen eine gewissen Übersättigung eintritt, ginge es der Kunst gerade darum, als Kunst die Genese des Technischen nachzuvollziehen. Ein Mittel dazu wäre die Rückverwandlung von computerunterstützter Collage in Malerei.
Repräsentation (Vergegenwärtigung)
Indem ich andere, neuere wie ältere Bilder „reproduziere“, d.h. ihren „Kultwert“, wie Benjamin sagen würde; realisiere (und nicht nur ihren Abbildungswert z.B. als Kopie), arbeite ich mit Wiederholungen. Wenn wir nach der Triebkraft fragen, die hinter allen Wiederholungen steckt, kommt man notwendigerweise auf Freuds Wiederholungszwang.
Die Äußerungen eines Wiederholungszwangs, die wir an den frühen Tätigkeiten des kindlichen Seelenlebens wie an den Erlebnissen der psychoanalytischen Kur beschrieben haben, zeigen in hohem Grade den triebhaften…und dämonischen Charakter…Dem Lustprinzip wird dabei nicht widersprochen; es ist sinnfällig, dass die Wiederholung, das Wiederfinden der Identität, selbst eine Lustquelle bedeutet…Auf welche Art hängt aber das Triebhafte mit dem Zwang zur Wiederholung zusammen?...Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muss vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod.
Für die Kulturentwicklung bedeutet dies nach Freud, dass die vorgebliche Höherentwicklung des Menschen, sich „ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen lässt, auf welche das Wertvollste der menschlichen Kultur aufgebaut ist“. Der Preis dafür ist allerdings hoch. Da „der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung, in der Regel durch die Widerstände, welche die Verdrängungen aufrechterhalten, verlegt ist, bleibt nichts anderes übrig, als in der anderen noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozess abzuschließen und das Ziel erreichen zu können“.
So wäre also meine obsessionelle unaufhörliche und letztlich nie abzuschließende Beschäftigung mit früherer Kunst einer, wie Freud sagt, „neurotischen Phobie“ ähnlich, „die ja nichts anderes als ein Fluchtversuch vor einer Triebbefriedigung ist. In diesem Falle also einem noch schnelleren Tod entgegenzueilen als das gnädige Schicksal mir möglicherweise bestimmt hat! Dass wir uns hier, insbesondere in der dämonischen Form des Wiederholungszwangs, „über diese „ewige Wiederkehr des Gleichen“ nur wenig verwundern“, darf getrost als Zeugnis der Lektüre Nietzsches durch Freud angenommen werden und zeigt noch einmal den wenig erfreulichen Charakter der von Nietzsche selbst als seine größte und tiefste Leistung angesehen „Wiederkunft des ewig Gleichen“.
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Natürlich stellt sich hier die Frage, inwieweit das Wieder-Malen nach Fotos oder das Wieder-Schreiben, also die „re-ecriture“ einen Vergleich mit Freuds Wiederholungszwang und damit dem Todestrieb überhaupt aushält. Diese hier nicht zu entscheidende Frage bekommt ihre Pointe angesichts der These von Sloterdijk, der Todestrieb sei besser mit „Todesappetit“ zu übersetzen.
Obwohl zur Nutzung der Fotografie für die Malerei – ein Verfahren, dessen sich heute die meisten Maler bedienen – fast alles gesagt zu sein scheint, möchte ich hier einen Gedankengang diskutieren, der am Beginn der zeitgenössischen Fotomalerei steht und von keinem Geringeren als Michel Foucault stammt. In seinem Einführung zur Eröffnung einer Ausstellung des Malers Gerard Fromanger mit dem Titel „Die photogene Malerei“ von 1975 bringt Foucault zuerst die Öffnung der Avantgarde-Maler und der Kunstszene für neue Bilder ins Gedächtnis, „Bilder in Umlauf zu bringen, sie übergehen zu lassen, sie zu verkleiden, sie zu verformen, sie bis zur Rotglut zu erhitzen, sie einzufrieren, sie vielfältig zu übersetzen“. Er macht klar, dass es sich dabei weniger um eine Rückkehr zur Figuration handelt (unabhängig davon, dass diese Rückkehr entweder größenwahnsinnig oder dilettantisch oder beides wäre):
Der technischen Möglichkeit beraubt, Bilder anzufertigen; zur Ästhetik einer bildlosen Kunst gezwungen; der theoretischen Verpflichtung unterworfen, die Bilder zu disqualifizieren; angewiesen, die Bilder nur als eine Sprache zu lesen, so kam es, dass wir, an Händen und Füßen gefesselt, der Kraft anderer - politischer, kommerzieller – Bilder ausgeliefert wurden, über die wir keine Macht hatten.
Auch und gerade zur Zeit einer überbordenden künstlerischen Bilderflut muss man sich die Anfänge dieser Flut, die für einige schon katastrophische Dimensonen annimmt, klarmachen. Die Maler der POP-Art und des Hyperrealismus erstreben nach Foucault nicht die Dichte früherer Bilder und deren Sujets, sie integrierten Bilder nicht in ihrer Maltechnik, sondern „setzen sie in ein großes Bilderbad hinein…sie suchen nicht hinter dem Bild nach dem, was es darstellt und was sie vielleicht niemals gesehen haben; sie fangen Bilder ein und nichts anderes. Aber sie malen auch Bilder, so wie man sagt, man malt ein Gemälde; denn das, was sie am Ende ihrer Arbeit hervorgebracht haben, ist nicht ein ausgehend von einer Fotografie geschaffenes Gemälde noch eine zum Gemälde umgeschminkte Fotografie, sondern ein Bild, das auf dem Weg erfasst wird, dass es von der Fotografie zum Gemälde führt“. Foucaults scheinbares Herum-Reden um diese damals neuen Bilder drückt jenen transitorischen Charakter aus, der eben durch das mehr oder weniger direkte Anbringen von Form und Farbe mittels des Projektors, ohne das Zwischenglied der Zeichnung, auf die Leinwand gebracht wird. Dieser transitorische Charakter der neuen Bilder ist jedoch nichts anderes als „ein Ereignis erstehen zu lassen“, „auf dem Foto-Ereignis ein Gemälde-Ereignis zu erschaffen“:
Ein Ereignis entstehen zu lassen ,welches das andere überträgt und verherrlicht, welches sich mit ihm kombiniert und welches für alle diejenigen, die kommen, um es zu betrachten, und für jeden einzelnen Blick, der auf ihm ruht, Anlass zu einer unbegrenzten Serie neuer Durchgänge ist. Durch den Kurzschluss von Foto und Malerei nicht die gefälschte Identität der früheren Foto-Malerei, sondern einen Brennpunkt für funkenförmig entspringende Myriaden von Bilder zu erschaffen.
Wir erinnern uns hier an Heideggers Ereignis-Philosophie und insbesondere daran, dass diese einen anderen „Zeit-Spiel-Raum“ eröffnet, wobei das „Wesen der Zeit in seiner ursprünglichen Ekstatik zu denken ist“ und somit als „mögliche Wahrheit für das Seyn als solches“ dient. Dieses Ereignis äußert sich als „Spiel des Abgründigen“, als „Versuch“, als „Mögliches schlechthin“, als „Wagnis“, schließlich als sich ereignendes Zwischenreich:
Das Seyn west als das Zwischen für den Gott und den Menschen, aber so, dass dieser Zwischenraum erst dem Gott und dem Menschen die Wesensmöglichkeit einräumt, ein Zwischen, das seine Ufer überbrandet und aus der Brandung erst als Ufer erstehen lässt, immer zugehörig dem Strom des Er-eignissses, immer verborgen im Reichtum ihrer Möglichkeiten, immer das Herüber und Hinüber der unerschöpflichen Bezüge, in deren Lichtung Welten sich fügen und versinken, Erden sich erschließen und die Zerstörung dulden.
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In seiner Paraphrase der neuen Bilder hat Foucault auch ein wichtiges Kriterium genannt, das ihrer „Verkleidung“. Wie? Sind Bilder nicht an sich schon eine „Verkleidung“, eine „Maskierung“ von etwas, das irgendwie und irgendwo „in“ ihnen oder „hinter“ ihnen oder „über“ ihnen sich herumtreibt als unheimlicher Wiedergänger einst so kommoder Wahrheiten wie Schönheit, Transzendenz, Proportion, Symbolik, Allegorie, von einer Ontologie oder gar Theologie der Form ganz zu schweigen. Alles weg! Nicht verloren, sondern im Überschwang einer tabula-rasa-Euphorie in der heute merkwürdigerweise als klassisch geltenden Früh- und Hochmoderne zu Grunde gestoßen zugunsten eines neomytischen „majestätischen Neugeborenen“, wie Malewitsch es formulierte, was dann in das reine Nichts einer vermeintlich vorästhetischen Erhabenheit mündete?
Halt! Ist nicht das schwarze Nichts auch eine Verkleidung, eine Maskierung eines Stadiums des alchemistischen, ewig sich wandelnden Weltprozesses, wie es vielleicht im „Schwarzen Quadrat“ des Nigredo-(„Schwärzungs“)Zustands in einer alchimistischen Grafik aus dem 17. Jh. zum Ausdruck kommt? Ja, sind nicht der Tod und der Todestrieb selbst Schachzüge in einem „mystisches Spiel“, wie es Gilles Deleuze in seinem frühen Hauptwerk, „Differenz und Wiederholung“ formuliert:
In der Wiederholung vollzieht sich also zugleich das ganze mystische Spiel von Verderben und Heil, das ganze theatralische Spiel von Tod und Leben, das ganze positive Spiel von Krankheit und Gesundheit (vgl. Zarathustra, der an ein und derselben Macht erkrankt und genest, an der Macht der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr)
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Wenn wir Foucaults Feststellung, „jedes Gemälde (der Fotomalerei) sei ein Übergang, ein Schnappschuss“, dann kann das ja nur bedeuten, dass diese Fotomalerei ebensoviel mit der Malerei wie mit der Fotografie zu tun hat. Jüngst hat Giorgio Agamben in einem kurzen Essay einige der originellsten Vorschläge unter den nicht wenigen hochkarätigen Lösungen der Rätselfrage, was denn Fotografie wirklich sei, gemacht. Der Grund der Faszination liegt für Agamben „einfach“ darin, dass „die Fotografie gewissermaßen der Ort des Jüngsten Gerichts ist“, sie stelle die Welt so dar, wie sie am letzten Tag, am Tag des Zorns erscheine.
Agamben führt als „absolut klaren“ Beleg für diese frappierende These eine der frühesten Fotografien an, nämlich den „Boulevard du temple“, den Daguerre 1839 vom Fenster seines Arbeitszimmers aus zur Stoßzeit fotografiert hat. Aufgrund der damals nötigen extrem langen Belichtungszeit sehe man von der Masse von Menschen, die zu der Zeit unterwegs gewesen sein müssen, gar nichts – außer auf dem Trottoir links unten einen Mann, der sich die Stiefel putzen ließ. Für seine These verwendet Agamben die stärksten Metaphern: Er spricht von der Anwesenheit der Abwesenheit der ganzen Menschheit, außer einer Person, die vom Engel des Jüngsten Tages, ja, vom Engel der Fotografie „unsterblich“ gemacht werde. Eine solche Fotografie hat für Agamben nichts Ästhetisches, eher den Anspruch auf eine Erlösung.
Montage als dialektisches Bild
Natürlich muss ich hier Benjamins „Engel der Geschichte“ aus seinen berühmten, aber längst nicht ausdiskutierten Thesen zur Geschichte in Erinnerung rufen:
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Benjamins Angelus Novus, dessen gleichnamige Zeichnung von Paul Klee, die Benjamin besaß, für ihn den Charakter eines „Denkbildes“ hatte, schwebt in einem, wie es sich für Engel gehört, Zwischenreich von Vergangenheit und Gegenwart, irgendwie bedrohlich eschatologisch unterlegt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Benjamin in seinem letzten Skriptum, eben jenen Thesen, dem Bild, das für ihn immer ein „dialektisches“ ist, eine zentrale Stellung zuweist, ja, er spricht dort sogar vom „wahren Bild“, von einem verum ikon also: Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten…Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in Ihm gemeint erkannte.
Das Bild ist der terminus technicus von Benjamins Geschichtskonzeption, wobei paradoxerweise die Gegenwart nicht aus der Vergangenheit folgt, sondern umgekehrt, die Vergangenheit ein Teil der Gegenwart ist und sogar selbst messianischen sprunghaften Charakter annehmen kann.
Agamben zieht in seinem langen Kommentar mit dem Titel „Die Zeit, die bleibt“ eine Parallele zum ersten Korintherbrief des Paulus, indem er Benjamins „vorbeihuschendes Bild der Vergangenheit“ mit der Stelle aus 1 Kor 7,31 vergleicht, wo es heißt: „es vergeht nämlich die Gestalt der Welt“. Auch mir bleibt, ganz unmessianisch gesprochen, fast keine Zeit mehr, diese meine Ausführungen zu einem allerdings höchst vorläufigen Ende, wie ich hoffe, zu bringen. Es wird nicht überraschen, dass ich in Benjamins Begriff eines „Bildes als Dialektik im Stillstand“ haarscharf nun doch jene Fundamentalkonzeption meines „Mikro-Makro-Bilderbads“ erkenne, in dem vielleicht sogar nach den letzten Worten Benjamins, „die Jetztzeit , die als Modell der messianischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfasst, haarscharf mit der Figur zusammenfällt, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht“. Bleibt nur zu hoffen, dass die Menschheit dabei eine halbwegs gute Figur macht – trotz allem!