Nietzsche hat in seinem „Antichrist“ eine Deutung des Erlösers, des „Typus Jesus“ gegeben. So wendet er sich gegen dessen Heroisierung: „Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf fühlen ist hier Instinkt geworden: die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral („widersteht nicht dem Bösen“, das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne), die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmut, im Nicht-feind-sein-können.[1]
Nietzsche bezieht sich hier auf Matthäus 5, 38-39: „Ihr habt gelernt, dass gesagt worden war: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, ihr sollt dem Bösen, das man euch zufügen will, nicht widerstehen.“ Nietzsche hatte dazu notiert: „Aber wenn man nicht an Gut und Böse glaubt, was heißt dies dann?“ Dagegen setzt er ein genealogisches Verständnis, wenn er behauptet, dass vieles Gute aus Bösem entstanden sei und vice versa.“Was heisst „frohe Botschaft“? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden – es wird nicht verheissen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz. Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch – als Kind Gottes ist Jeder mit Jedem gleich…“[2]
Damit problematisiert Nietzsche die Idee der Verheißung der Erlösung am Ende aller Tage, nach dem Weltengericht und Weltenbrand in einem imaginären „himmlischen Jerusalem“, wie es die „Offenbarung des Johannes“ uns so plastisch schildert.
Der Erlöser-Typus wird nicht als heroischer Übermensch begriffen, sondern als Dekadent, der einen so extremen Widerwillen gegen Unlust, gegen Hass, gegen Distanz hat, dass er „überhaupt nicht mehr berührt werden will, weil er jede Berührung überhaupt als zu tief empfindet“[3] „Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen „freien Geist“ nennen – Er macht sich aus allem Festen nichts: Das Wort tötet, alles was fest ist, tötet…Er redet bloss vom Innersten: „Leben“ oder „Wahrheit“ oder „Licht“ ist sein Wort für das Innerste, - alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloß den Wert eines Zeichens, eines Gleichnisses…Eine solche Symbolik par excellence steht außerhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst – sein „Wissen“ ist eben die reine Torheit darüber, dass es etwas dergleichen gibt.
Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt, er hat keinen Kampf gegen sie nötig, - er verneint sie nicht…“.[4]
Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Nietzsche – im Gegensatz zum Christentum der Kirche, insbesondere der evangelisch-pietistischen, der er vom Elternhaus her entstammt – nicht nur eine gewisse Sympathie mit dem Typus Jesus an den Tag legt, sondern auch sich – cum grano salis – mit ihm identifiziert. So bezeichnet er sich und seine fiktiven Anhänger als „Wir freien Geister“.
Ist ein immanenter nicht-transzendenter Gottesbegriff, den Nietzscher sicher im Sinn hatte, überhaupt möglich?. Wäre dann nicht nach Nietzsches Postulat des Todes Gottes der „Antichrist“ überflüssig? Oder ist der tote Gott nur eine Fiktion, ein „Vorurteil“? „Schlimm genug«, antwortete der Wanderer und Schatten, »du hast recht: aber was kann ich dafür! Der alte Gott lebt wieder, o Zarathustra, du magst reden, was du willst. „Der häßlichste Mensch ist an allem schuld: der hat ihn wieder auferweckt. Und wenn er sagt, daß er ihn einst getötet habe: Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil.2[5]
Kehrt Gott also immer wieder?
Nietzsche fragt sich, warum die Germanen nicht diese christliche „Dekadenz-Religion“ von sich gestoßen haben. Stattdessen hätten sie die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in all ihre Instinkte aufgenommen – sie hätten seitdem keinen Gott mehr geschaffen! „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!“[6]
Bezüglich der ersten Christen ist festzustellen, dass gerade aufgrund der „Brüderlichkeit“ und der „Gleichheit“ der Gemeindemitglieder, die Kranken und Schwachen, die Minderprivilegierten und Rechtlosen, also Menschen mit Handicap genauso genauso geschätzt wurden wie Juden oder römische Bürger – im Gegensatz zur Welt der Antike.
„Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf „wie konnte Gott das zulassen!“ Darauf fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft (der Jünger nach dem Kreuzestod Christi H.H.) eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer…Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen!...Jesus hatte ja den Begriff „Schuld“ selbst abgeschafft – er hat jede Kluft zwischen Mensch und Gott geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine „frohe Botschaft“…– Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod als einem Opfertod, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff „Seligkeit“, die ganze und einzige Realität des Evangeliums eskamotiert ist – zu Gunsten eines Zustands nach dem Tode!“[7]
Ein real schuldiges Opfer ist keins, sonst würde man von einer Bestrafung sprechen. Unabhängig davon, wie der Prozess Christi im Sinne des römischen, bzw. jüdischen Rechts zu beurteilen ist, handelt es sich hier um eine Form des „Sündenbocks“, der nach Rene Girard in der frühen griechischen Welt als „pharmakon“ eine Rolle spielte, wie Menschenopfer überhaupt in vielen frühen Kulturen üblich waren.
[1] Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 29, KSA 6, S. 199f
[2] Ibid.
[3] Ibid.
[4] Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, a.a.O. S. 204
[5] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Das Eselsfest
[6] Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, a.a.O. S. 185
[7] Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, a.a.O. S. 214f