„Ästhetik“ soll hier in ihrer ursprünglichen Bedeutung als „Wahrnehmung“ und „Empfindung“ zu verstehen, eine Bedeutung, die die alten Griechen mit dem von ihnen geprägten Begriff der „aisthesis“ verbanden, der auf alles, was man mit den Sinnen aufnahm, angewendet wurde. Auch im heutigen Sprachgebrauch bezeichnen wir Dinge und Situationen als „ästhetisch“, die weit über den rein künstlerischen Bereich hinausgehen, ja, wir würden vielen Werken der Kunst gar nicht das Attribut „ästhetisch“ zugestehen. Somit haben wir umgangssprachlich die Kunst als einen Teilbereich unserer Wahrnehmung gesetzt. Trotzdem erscheint uns die Kunst als mehr oder weniger getrennter Bereich gegenüber dem, was wir seit den Erkundungen der phänomenologischen Philosophie die „Lebenswelt“ nennen.
Wenn wir jedoch auf die frühere Kunst bis hin zu ihren Anfängen blicken, werden wir mit einem merkwürdigen Phänomen – übrigens in allen Kulturen – konfrontiert: Die Kunst bildet fast ausschließlich nicht das ab, was die Menschen damals wirklich gesehen haben, sondern eine Welt des Nicht-Sichtbaren, eine Welt der Ideen, der Vorstellungen, der Illusionen, kurz, die frühere Kunst thematisiert religiöse, mythische oder ideelle Komplexe, allerdings mit Bildern aus der diesseitigen Welt: Menschen, Dingen und Atmosphären, die aber nicht das bedeuten, was wir sehen, sondern das, was wir nicht sehen; also z.B. nicht eine beliebige Mutter mit ihrem Baby, sondern die Muttergottes mit dem Christuskind. Im Falle weit zurückliegender oder untergegangener Kulturen ist es oft sehr schwierig, wenn nicht ganz unmöglich, die damals gemeinte Bedeutung zu rekonstruieren. Trotzdem sprechen uns Kunstwerke sogar gerade deshalb an, weil ihre historische Bedeutung für immer rätselhaft bleiben muss, wie z.B. prähistorische Höhlenmalereinen, deren Reiz zum Teil gerade in ihrem Geheimnis liegt.
Auch Kunst, deren Bedeutung wir nicht kennen, kann für uns einen ästhetischen Reiz haben: das liegt im wesentlichen darin, dass wir die jeweiligen Darstellungen in unsere Lebenswelt übertragen, in unserem Falle erscheint das göttliche Kind dann als ein besonders rührendes Baby, was unsere Anteilnahme erregt. Wir begnügen uns dann oft nicht nur mit dem puren Wiedererkennen, sondern geben dem, was wir in der Kunst sehen, eine Fülle von damit verbundenen Bedeutungen, Meinungen, Assoziationen und Analogien. Wir sprechen dann von Symbolen, Metaphern und Allegorien. Letztere hatte schon Goethe für ausrangiert erklärt, wie ich meine, zu Unrecht.
Festzuhalten ist, dass wir beim Betrachten von Kunstwerken immer ein höchst differenziertes Wechselspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem vollziehen oder: Jedes künstlerische Bild verweist gleichzeitig auf sich selbst und auf etwas anderes.
Wenden wir uns nun wieder dem Bild „Orchidee“ zu. Ausser dem linken fruchtartigen Gebilde bereiten uns die anderen Bildsujets keine Wiedererkennungsschwierigkeiten: die überdimensionale Blüte, die lächelnde junge Frau, der etwas misstrauisch den Betrachter anblickende junge Mann. Die Blüte scheint sich im gleichen Bildraum wie das Frauengesicht zu befinden, wohingegen der Kopf des Mannes in einer anderen Bildwelt zu sein scheint, wobei der Frauenkopf ein wenig da hineinragt. Diese Bilddinge präsentieren sich, sie scheinen uns eine Botschaft mitteilen zu wollen, die wir nicht – oder noch nicht – verstehen.
Die Orchidee gilt als eine der „Königinnen“ der Flora, einzelne Exemplare sind begehrte Objekte; die junge Frau hat ein gewisses „Strahlen“ an sich, wohingegen der junge Mann irgendwie martialisch und sportlich gestählt wirkt. Alle diese Eigenschaften werden in unserer Kultur überwiegend positiv eingeschätzt: Fitness, strahlende Schönheit, Jugendlichkeit, exotische Pracht. Andererseits erfahren wir täglich die dunklen Seiten dieser schönen „Äußerlichkeiten“: körperliche Kraft kann in unkontrollierte Aggression umschlagen, Schönheit in Bulimie und Anorexie, Jugendlichkeit in wahnhafte Alterlosigkeit und Exotik in soziales Elend und Depravierung.
Etwas von diesem „Unheimlichen“ kommt in dem unklaren Gebilde links zum Ausdruck, meine ich. Einerseits floral organisch andererseits feurig explosiv, dabei fast schwebend und doch in die Bildarchitektur verwoben, verweist es aud die Naturkräfte und eben nicht auf die technisch-wissenschaftliche, sondern auf die anschauliche und empfindungshafte Dimension der Natur, eben die „aisthesis“, in früheren Zeiten durch die vier Elemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde symbolisiert. Letztere sind eben nicht durch die Naturwissenschaft überholt, sondern sind nach wie Teil unserer symbolischen Empfindungsfähigkeit.Wahrnehmung und Empfindung sind kein Vorrecht der Menschen, sie finden sich in der gesamten organischen Welt; sie sind also kein Luxus verwöhnter Menschenkinder, sondern überlebensnotwenig. Wir gehen nicht fehl in der Annahme, dass ursprünglich das Starke auch das Schöne war, eben notwendig für Überleben und Arterhaltung, wohingegen das Kranke, Schwache auch das Hässliche war, das letztlich Tod und Absterben bedeutete.
Auch wenn man diese These ideologisch unvoreingenommen sieht, wird man mir den berüchtigten „Sozialdarwinismus“ entgegenhalten. Unbeschadet dieses ernstzunehmenden Einwands vergessen wir immer wieder, dass wir, wir menschliche Individuen es sind, die z.B. etwas als schön bezeichnen. Auf diese grundsätzliche Problematik, – um nicht zu sagen – Unmöglichkeit von Erkenntnis hat Nietzsche hingewiesen:
"Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivität ruht alle Ästhetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der entartende Mensch…Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst tatsächlich dabei Kraft ein."[1]
Natürlich dürfen solche Sätze und Worte angesichts des verbrecherischen Falsch- und Nicht-Verstehens nur im von Nietzsche gemeinten Zusammenhang gelesen werden. Auch dürfen wir dabei ruhig mitdenken, dass Nietzsche zeit seines Lebens ein chronisch Kranker und Neurastheniker war. Wie auch in seinen unveröffentlichten Frühschriften, die erst in den letzten Jahren verstärkt Beachtung gefunden haben, geht es Nietzsche um die von der klassischen Ästhetik und Erkenntnistheorie ausgeblendeten notwendigerweise anthropomorphen Charakter unserer Wahrnehmung und Urteile:
"Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter, als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen…Im Schönen setzt sich der Mensch als Maß der Vollkommenheit; in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen…Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft, – vergisst sich als deren Ursache…Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft."[2]
Wir wollen festhalten, dass Nietzsche „Schönheit“ und „Hässlichkeit“ unter der „Optik des Lebens“ (wie er sagen würde) sieht. Einer einseitig vitalistischen und zynischen Interpretation widerspricht am deutlichsten Nietzsches berühmter Antagonismus von „apollinisch“ und „dionysisch“, den er in die Ästhetik eingeführt hat, mit einer massiven Betonung des Dionysischen. Das Dionysische verkörpert geradezu das Dunkle, Negative, Konvulsische und triebhaft Vitale und steht damit in einem unauflöslichen dialektischen Gegensatz zum Strahlend-Schönen des Apollinischen (das auch deutliche grausam-tödliche Züge hat, wenn wir uns an die „Schindung des Marsyas“ oder an die Tötung der Töchter der Niobe erinnern).
So durchzieht Nietzsches Werk der Grundton des „tragisch-dionysischen“ Gedankens. Nur die Kunst vermöchte mit ihrer ästhetischen Verklärung und Glorifizierung – Termini übrigens, die eine alte theologische Traditon haben – das Dasein erträglich machen.
Dies wäre die erste und allgemeinste ethische Implikation der Kunst, nicht nur lebensfördernd, sondern überhaupt lebensspendend zu wirken.
Doch vermissen wir nach wie vor eine erkenntnistheoretische Dimension. Letztere ist nötig, da insbesondere der Faschismus mit einer pervertierten Lebensideologie, die nichts anderes als eine des Todes war, vitalistische Ansätze in Verruf gebracht hat.
Als erkenntnistheoretische Dimension möchte ich das anführen, was Rilke einmal den „Weltinnenraum“ und Georges Bataille die „Weltimmanenz“ genannt hat. Der Bezug zu Nietzsche würde sich insofern herstellen, als für ihn die Kunst das Organon einer neuen Weltidee ist, die zwischen den traditionellen Religionen und einem vulgären Materialismus und Atheismus anzusiedeln ist und deren Synonyme „der Wille zur Macht“, “Zarathustra“ oder die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ wären.
Immanenz ist für Bataille am klarsten, aber ohne Selbstbewßtsein in der Animalität verwirklicht: „Das Tier ist vollkommen eins mit der Welt, denn es lebt wie das Wasser im Wasser.“ Damegegenüber steht die Transzendenz, die mit dem Auftauchen des Menschen verbunden ist und die aus der ursprünglichen Immanenz herausgelöst wurde:
"Der Gegenstand hat einen Sinn, der die unterschiedslose Kontinuität zerbricht und sich der Immanenz oder dem Verströmen des Seienden widersetzt – indem er sie transzendiert. Er ist dem Subjekt, dem noch in der Immanenz versunkenen Ich durch und durch fremd."[3]
Mit der beginnenden Vergegenständlichung mittels Werkzeugen, die auch schon ganz früh zum Herstellen von „Kunstwerken“ benutzt wurden, werde überhaupt erst die Möglichkeit des Glücks gegeben. Es gibt die Chance, einer der Grundbegriffe Batailles, die sozusagen an Stelle der Gnade in der theologischen Welt tritt.
Die Kunst ist zwar zuerst auch Arbeit, kann jedoch als Ausdruck des Begehrens und des Spiels, eine Versöhnung herbeiführen zwischen den scheinbar getrennten Bereichen der Lebenswelt und der ursprünglichen Kontinuität der Immanenz. Nach Bataille und Nietzsche ist ja Gott nicht von irgendwelchen Atheisten, sondern von den Theologen selbst getötet worden oder, wie Gerd Bergfleth im Nachwort zu Batailles „Theorie der Religion“ feststellt:
"Gerade die Religionen, die angetreten waren, das Göttliche von allem Diesseitig-Irdischen zu reinigen, verfallen der totalen Säkularisation. So führt etwa der rationale Ausschluss der Sinnenwelt im Namen einer intelligiblen göttlichen Welt zur rationalen Freigabe des Diesseits…Auch das Opfer der Gottheit, d.h. die Institution des Mittlergottes und damit die Grundlage des Christentums, ändert daran nichts Entscheidendes, da sich Christi Heilstat nicht in der Ordnung der Dinge auswirkt und die Erlösung, die christliche Form der wiedergefundenen Immanenz, nach wie vor im Jenseits stattfindet"[4]
[1] Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 124
[2] A.a.O. S. 123
[3] Georges Bataille, Theorie der Religion, München 1997, S. 28
[4] Gerd Bergfleth, a.a.O. S. 230