Profanierung und Spiel als utopische Welt-Technik
Sowohl durch den Messianismus des älteren Judentums wie auch durch die paradiesische Heilserwartung ist dem Christentum – besonders in seinen Anfängen – eine Endzeithoffnung auf das bessere, ja das beste Leben inhärent. Diese abendländische chiliastische Heilserwartung schlug nach ca. 1500 Jahren – nach diversen Vorgeplänkeln – mit dem Einsetzen der Neuzeit, also mit Naturwissenschaft und Technik, in die bis heute anhaltende Intention der Schaffung eines „Irdischen Paradieses“ um. Deshalb ist dem westlichen Denken und Handeln eine sozial-utopische wie auch eine mystische, kontemplative Dimension eingeschrieben.
Das Christentum als Religion scheint einen ähnlichen Säkularisierungsprozess durchzumachen wie ihre Vorgängerin, die antike Religion, an deren Ende sie selbst massiv mitgewirkt hat. Die Frage, ob die Neuzeit vor allem im Gefolge der Aufklärung bis hin zur Moderne eher säkularisierte, ehemals christliche Züge trägt oder tatsächlich eine tendenzielle Selbstbestimmung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ ist, muss hier unentschieden bleiben. Diese „Säkularisierung“ unterscheidet Giorgio Agamben von der „Profanierung“
Die Säkularisierung ist eine Form von Verdrängung, welche die Kräfte weiterwirken lässt und sich auf deren Verschiebung von einem Ort zum anderen beschränkt. So macht die politische Säkularisierung theologischer Begriffe (die Transzendenz Gottes als souveräne Macht) nichts anderes, als die himmlische Monarchie auf die Erde zu versetzen, lässt deren Macht aber unangetastet. Die Profanierung beinhaltet jedoch eine Neutralisierung dessen, was sie profaniert. Wenn aber das, was nicht verfügbar und abgesondert war, einmal profaniert ist, verliert es seine Aura und wird dem Gebrauch zurückgegeben.
(Ag Pro 74)
Das Nicht-Verfügbare und Abgesonderte ist nach Agamben das Heilige, also die Religion, die definitionsgemäß Dinge, Orte, Tiere und Menschen dem allgemeinen Gebrauch entziehe und in eine abgesonderte Sphäre versetze. Demgegenüber missachte die Profanierung die strenge Trennung von Menschen und Göttern (dem Inbegriff von Religion), indem sie mit diesen Sphären mit einer gewissen Nachlässigkeit umgehe und damit einen neuen besonderen Gebrauch davon mache. Eine der wichtigsten Manifestationen dieses speziellen Gebrauchs sei das Spiel, das zwar ursprünglich aus der Sphäre des Heiligen stamme (so hatten sowohl Gruppen- wie auch Brett- und Kartenspiele einst – und auch heute noch – Orakel- und Prophezeiungscharakter), das nunmehr aber die Menschheit von der Sphäre des Heiligen befreie, ohne diese einfach abzuschaffen. (Ag Pro 73).
Wir erinnern uns an jenes rätselhafte Fragment 52 von Heraklit: „Das Leben ist ein spielender Knabe, ein Brettspiel spielend. Des Knaben (ist das) Königreich.“ Damit hat Heraklit, allerdings erst in der Diktion des jungen Nietzsche, nichts weniger als „die postmoderne Spitze der Modernität in Sachen Ästhetik“ (Günter Wohlfart) vorweggenommen.
Nietzsche spricht in einem frühen Fragment in Bezug auf das Denken Heraklits und im Besonderen auf das „spielende Weltkind“:
Das ewig lebende Feuer…spielt, baut auf und zerstört…jenes Gegeneinander ist nur als künstlerisches Phänomen zu fassen. Es ist eine rein ästhetische Weltbetrachtung.
Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an…
So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen. (KSA 1, 830f)
Nietzsches Pointe liegt darin, dass er das Weltspiel nicht kosmologisch-mythisch, sondern ästhetisch interpretiert. Man hat dagegen eingewandt, dass „der spielende Künstler eine Erfindung der modernen Zeit sei“ und wollte damit unterschwellig das Unstatthafte eines Vorgehens andeuten, das die Gegenwart nicht aus der Vergangenheit deutet, sondern umgekehrt, die Vergangenheit aus der Gegenwart.
Demgegenüber hat Benjamin in einer seiner letzten Schriften, den Aphorismen „Über den Begriff der Geschichte“ angedeutet, dass, wenn wir das „Bild vom Glück, das wir hegen“ verfolgen – und was macht die Kunst anderes, als eben dieses Bild vom Glück zu gestalten – wir unweigerlich auf die geschichtliche Zeit verwiesen sind. Damit „schwinge in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“. (Ben Gesch II):
Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird…Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann ist uns, wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben.
Unter dieser Optik kann es bei der Artikulation der historischen Vergangenheit nicht darum gehen, zu erkennen, „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Stattdessen „heißt es, sich einer Erinnerung bemächtigen“. (Ben Gesch VI) Damit wird das Bemühen um historische „Wahrheit“ keineswegs entwertet; ganz im Gegenteil kommt ihm eine enorme Bedeutung zu, da nur unter dieser Voraussetzung die Methode der Profanierung im Sinne Agambens möglich ist. Natürlich gibt es Profanierung schon von Anfang an, etwa in der griechischen Tragödie, wenn sich die Götter von Aischylos bei Euripides zu fast normalen Menschen wandeln oder wenn zu Beginn der Neuzeit im 16. und 17. Jh. eine Naturgeschichte gleichermaßen natürliche Lebewesen und mythische Fabeltieren umfasst oder wenn, wie in der Renaissance, das religiöse Geschehen plötzlich in einer „richtigen“ Landschaft oder einer historischen Stadtarchitektur spielt: immer geht es um einen freien profanen Gebrauch ehemals mythologischer oder religiös-christlicher Gehalte, ohne diese in toto zu negieren oder gar zu zerstören.
Profanierung ist also immer ein synkretistischer Vorgang. Was profaniert wird, erscheint weiter – nur in anderen Zusammenhängen. Profanierung grenzt nicht aus (die Grundvoraussetzung jedes Heiligen – so heißt der heilige griechische Tempelbezirk „temenos“ = das Abgegrenzte, Abgeschnittene), sondern fügt zusammen. Und in diesem Sinne ist Profanierung als Welt-Technik ein spezifisch modernes Verfahren – und ein radikal utopisches dazu.
Allerdings ist Profanierung nachhaltig und in gewisser Weise sogar radikal und damit das Gegenteil der schlechten Kittung einer ausgedünnten Religion mit flauen pseudo-philosophischen Sprüchen…
Vor allem: Profanierung hat nichts mit Blasphemie zu tun. Nur Böswillige, Ewig-Gestrige und Ignoranten unterstellen dies.
Paradies als Remix!
Schönheit und das Irdische Paradies
Schönheit heute ist ein gigantischer Industriefaktor, dem man so gut wie nicht entrinnen kann. Deshalb ist sie schon lange kein Privileg einer kleinen elitären Minderheit mehr. Dennoch scheinen die Segnungen der Beauty-Industrie nicht allen die wahren Glücksbringer zu sein, vielmehr ist deutliche Kritik am „Schönheitswahn“, wie unbedarft und theoretisch fragwürdig auch immer, zu vernehmen. Doch wollen sich die wenigsten dieser „Schönheitsfalle“ entziehen, ja, besonders in den rasch expandierenden Gesellschaften der Schwellenländer gilt der durch das Internet globalisierte Schönheitskonsum durchaus als Teil der neuen Menschenrechte, die dann auch teilweise in Massenprotesten lauthals eingefordert werden.
Doch der Schönheitswahn macht beim Subjekt nicht halt. Design ist seit langem schon die Devise nicht nur des menschlichen Ambientes, sondern vielmehr unseres gesamten gesellschaftlichen Lebens. „Design your life“ heißt die Devise und wehe, wenn du sie nicht ernst nimmst. „Entweder du gestaltest dich oder du wirst gestaltet“ heißt eine der Maximen der Moderne von Nietzsche bis Foucault. Die Gestaltungsspielräume dieser von Foucault so genannten Biopolitik sind gekennzeichnet durch eine Tendenz über die klassischen ästhetischen Räume hinaus zu einer Ästhetisierung der Politik und des Lebens allgemein, eine Tendenz, die Benjamin zuerst ausschließlich für den Faschismus festmachte. Die heute grassierende „Ästhetisierung des Sozialen“, wie sie sich vor allem in den modernen Medien aktualisiert (Werbung, soziale Netzwerke, etc.) hat selbstverständlich nichts zu tun mit einer totalitären Theatralisierung der Politik, sondern appelliert massenhaft an den Selbst-Kreationismus jedes Einzelnen, der mittels Smartphone und Tablet PC mit der ganzen Welt vernetzt ist. „Jeder sein eigener Demiurg!“. So kann man mit Platons Timeios ausrufen. ( Timaios 28ff)
Gegenüber diesem globalen Ästhetisierungs-Willen, der massive Aspekte eines „Irdischen Paradieses“ hat, wirkt die seit kurzem ausgerufene Wiederkehr des Schönen in der Kunst, thematisiert in einem 1999 erschienenen Katalog mit dem emphatischen Titel „Beauty Now“, irgendwie rührend. Natürlich wissen wir, dass die frühen Modernen die Schönheit radikal ausgeblendet haben, aus Animosität gegenüber einer als verlogen empfundenen Salonmalerei, so als ob „die Wahrheit in der Kunst“ nicht auch Lüge wäre. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen (de Chirico, Balthus) mussten auch radikale Moderne erkennen, dass es in der Kunst ohne Ästhetisierung nicht geht und seis diejenige des Hässlichen. Und einige abstrakte Künstler entwickelten sowieso eine am antiken „Erhabenen“ oder an der Theosophie orientierte Ästhetik eines primordialen Schönen (Newman, Mondrian). So nimmt es nicht wunder, dass im Zuge der Pop-Art das Schöne (oder vielleicht die Schönheiten) wieder entdeckt wurden. Im Übrigen war natürlich die Schönheit bzw. das Schöne nie ganz in Vergessenheit geraten, wie Wolfgang Welsch richtig bemerkte.
Der Hauptgrund dafür dürfte eher in unserer Triebstruktur liegen. Wie insbesondere Winfried Menninghaus dargelegt hat, ist Schönheit evolutionsbiologisch fundiert: gewisse männliche Tiere, z. B. Pfauen haben mit ihrer „Schönheit“ einen solchen Selektionsvorteil bei den vergleichsweise unscheinbaren Weibchen entwickelt, dass die prächtigste männliche Präsentation immer die größte Paarungschance hat. Schon Darwin hatte in seinem letzten unvollendeten Werk „The descent of man“ versucht, diesen Mechanismus auf die Menschheit zu übertragen, was unter anderem daran gescheitert ist, dass, zumindest in der Neuzeit, sich die westlich orientierten Männer mit dem bürgerlichen Einheitsanthrazit des Anzugs bescheiden, wohingegen Frau, außer im Business-Outfit, eine große Palette von Farben und Formen zur Verfügung hat. Inzwischen ist im Bereich der Alltagsklamotten bei beiden Geschlechtern eine solch hochdifferenzierte Auswahl möglich, dass strukturell gar kein Unterschied mehr auszumachen ist.
Dies ist nur eine aktuelle Facette im Bereich der Kulturtechniken, deren Anfänge mit dem Beginn der Werkzeugkultur heute auf einen Zeitraum vor nicht weniger als 2,5 Millionen Jahre geschätzt werden. Damit haben wir insbesondere unseren Körper zunehmend von der natürlichen Selektion der Evolution abgekoppelt.
Gerade weil der Mensch in einzigartiger Weise Kulturwesen geworden ist, das sein Leben vor allem kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten meistert, insistiert in seinem Körper und seinen sexuellen „Ornamenten“ auf eine weitgehend unmotivierte Weise ein lange zurückliegendes Entwicklungsstadium. (Men Schön 127)
Damit würde, wie Menninghaus feststellt, „die Evolutionsbiologie selbst, aus eigenen Erwägungen, ihre Unzuständigkeit erklären und diese an Semiotik und Kulturgeschichte der Moden weitergeben“. Trotzdem kann die Entdeckung, dass „die Phänomene ästhetischer Attraktion durch sexuelle Ornamente in unserer Naturgeschichte verankert“ sind – wenn auch weitest zurückliegend – in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden, trägt damit doch der gesamte Schönheitsdiskurs seitdem einen evolutionsbiologischen Index.
Lässt sich gar ein Zusammenhang herstellen zwischen der Leistung Platons, dem Schönen ein für allemal ein Begehren eingeschrieben zu haben, ein „Zeugen im Schönen“, das schlussendlich im Begehren nach Erkenntnis aufgipfelt und jener evolutionsbiologischen Funktion des Schönen? Schon Freud hatte einen Zusammenhang zwischen Triebstruktur und Erkenntnis vermutet. Die obsessionelle Suche nach Erkenntnis hätte demnach ihre triebpsychologische Fundierung in der sexuellen Wissbegierde. Doch auch er resignierte angesichts der Paradoxie zwischen zielgerichtetem Begehren und zielgehemmter, von ihm so genannter „Sublimations“-, sprich Kultur-Leistung der Schönheit: „Leider weiß auch die Psychoanalyse über die Schönheit am wenigsten zu sagen“ (Freud Unbehagen) Der Wissenschaft der Ästhetik traut er keine „Aufklärung über Natur und Herkunft der Schönheit“ zu. Stattdessen verhülle sie ihre Ergebnislosigkeit „wie gebräuchlich“ durch einen Aufwand an volltönenden und inhaltsarmen Worten.
Bleibt uns also nur die resignierte Feststellung von Sokrates nach einem langen und ermüdenden Diskurs mit dem berühmten und reichen Sophisten Hippias: „Denn was das Sprichwort „Was schön ist, ist schwer“ eigentlich meint, das glaube ich erkannt zu haben“ (Größ Hipp 304)?
Die evolutionsbiologische Fundierung der Schönheit sollte uns als gute „Profanierer“ nicht dazu verführen, der Evolution dieselben Attribute wie dem allmächtigen transzendenten und – zumindest in seinen Anfängen (aber hat Gott überhaupt einen Anfang?) – höchst eifersüchtigen monotheistischen Schöpfergott – zuzuschreiben. Es geht mir hier ausschließlich um eine semiotische Differenzierung. So schließt der Bezug auf die Phylogenese keineswegs die Diskussion einer der bedeutendsten und wirkmächtigsten Leistungen in der Geschichte des Denkens aus, nämlich die platonische Konzeption des Schönen.
Platons komplexen Schönheitsbegriff hat der polnische Ästhetiker Tatarkiewicz folgendermaßen zusammengefasst:
Platon bestritt nicht, dass der einfache Mensch an schönen Körpern Gefallen finden könne, aber er war der Ansicht, dass es noch Schöneres gebe als schöne Körper: schöne Gedanken und Taten. Das Geistig-Schöne hat höheren Rang. Und doch ist auch dieses noch nicht das Höchste. Das höchste Schöne ist in der Idee, diese erst ist „das Schöne an sich“. Wenn ein Mensch etwas Schönes vollenden will, dann kann er das nur nach dem Vorbild der Idee. Wenn Körper und Seelen schön sind, sind sie es nur dank der Idee, insofern sie der Idee des Schönen nahekommen. Ihre Schönheit vergeht, und nur die Idee des Schönen ist ewig. (Tat I 146)
Jüngst hat der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien eine Aktualisierung der Ideen Platons vorgeschlagen, innerhalb derer er auch die für die europäische Kultur zentrale Idee der Schönheit Gottes darlegt. Daran anschliessen sollte sich eine Diskussion – im Sinne der Profanierung – über die utopische Dimension des Irdischen Paradieses als eine Verweltlichung des „himmlischen Jerusalems“ mit seinem „Glanz der Herrlichkeit Gottes“, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt: „ Die Stadt (das himmlische Jerusalem) braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie…Die Völker werden in diesem Lichte einhergehen, und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen“ (Off 21, 22).
(2014)