zu Jacques Derridas „Platons Pharmazie“
Der Titel, den Jacques Derrida seinem zuerst 1968 veröffentlichten langen Essay, „Platons Apotheke („Pharmazie“), gegeben hat, irritiert, steht Platon doch nicht gerade im Verdacht, für Beschwerden, Krankheiten oder Unpässlichkeiten alle möglichen Mittelchen, Arzneien, Drogen oder Gifte verschrieben zu haben. Auch wenn wir erfahren, dass sich Derrida in diesem Essay im Wesentlichen mit dem Dialog „Phaidros“ auseinandersetzt, wird unsere Ratlosigkeit nicht geringer: „Begeisterung und göttlichen Wahnsinn“ (Josef Pieper) assoziieren wir mit diesem platonischen Dialog und vielleicht noch Platons Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort, am ehesten bei den von Sokrates immer wieder vorgeführten Sophisten. Genau da setzt Derrida ein und zwar bei einer in den Übersetzungen nicht nachvollziehbaren Bedeutungsvielfalt des griechischen „pharmakon“, das von Platon im der Bedeutung von „Mittel“ verwendet wird wie auch von „Wirkstoff, Arzneimittel, Gift oder Droge“.
Sokrates führt im Phaidros den Mythos des ägyptischen Gottes Theut (Thot) an, der als Erfinder der Schrift gilt und diese dem damaligen Gott-König Thamus mit folgenden Worten anpreist: „Dieser Lehrgegenstand, o König, wird die Ägypter weiser und gedächtnisfester machen; denn als Mittel (pharmakon) für Gedächtnis und Weisheit ist er erfunden worden.“ (274) Thamus ist über diesen neuen „Lehrgegenstand“, die Schrift, gar nicht begeistert und klagt sie sogar eines niedrigen Wertes an, insofern als „das pharmakon der Schrift gut sei für die hypomnesis (Re-memorierung, Aufzeichnung) und nicht gut für die mneme (das lebendige und wissende Gedächtnis). (Derr 101)
„Denn der Gott der Schrift ist auch, so Derrida weiter, der Gott des Todes. Vergessen wir nicht, dass im Phaidros ebenfalls der Erfindung des pharmakon der Vorwurf gemacht werden wird, dass sie das lebendige Wort durch das atemlose Zeichen ersetzt, dass sie sich des (lebendigen und Quelle des Lebens seienden) Vaters des logos zu entledigen bestrebt ist, dass sie genauso wenig wie eine Skulptur oder wie ein unbelebtes Gemälde noch von sich aus zu antworten/sich zu verantworten vermag.“ (Derr 102)
Sokrates vergleicht den, der Schriften verfasst, mit einem Landwirt, der seinen Samen einmal kurzfristig zum schönen Aufgehen bringt, indem er ihn im Sommer in den „Adonisgarten“ legt. Die Adonisgärten bestanden aus einer Muschel, einem Korb oder einer Vase, in denen man Pflanzen sprießen ließ, die schnell wuchsen und schnell starben. Diese Opfergaben erinnerten an das gewaltsame Ende des Adonis, der als Geliebter der Venus von einem Eber, in den sich der eifersüchtige Mars verwandelt hatte, tödlich verletzt wurde.
Es erscheint nicht zufällig, dass der Ort des Gesprächs mit Phaidros eine idyllische mediterrane Landschaft ist, unter einer Platane auf einer Wiese, vor der Mittagshitze. Weiterhin vergleicht Sokrates das Schreiben mit dem geduldigen und verständigen Bauern im Gegensatz zum „eiligen und verspielten Luxusgärtner. Auf der einen Seite das Ernsthafte, auf der anderen das Spiel und das Fest. Auf der einen Seite die Kultivierung, die Agrikultur, das Wissen, die Ökonomie, auf der anderen die Kunst, der Genuss und die rückhaltlose Vergeudung.“ (Derr 169) „Also wird er (der Bauer – Wissende) ihn (den Samen), wenn es ihm Ernst ist, nicht in Wasser schreiben (sprichwörtlich für vergebliches Tun) und mit schwarzer Tinte aussähen durch ein Schreibrohr mit Worten, die unfähig sind, sich selbst argumentativ zu helfen, und unfähig, die Wahrheit hinreichend zu vermitteln“. (276c)
Schrift als Trugbild – das scheint für Platon unzweifelhaft. Allerdings unterscheidet er das wahre und das lügenhafte Trugbild bzw. Abbild. Gilles Deleuze hat gezeigt, dass Platon ebenfalls beim Bild „wahre“ Abbilder von den Trugbildern trennt:
Die Unterscheidung (Platons) verschiebt sich zwischen zwei Arten von Bildern. Die Abbilder sind Besitzer zweiten Ranges, wohlbegründete Bewerber, durch die Ähnlichkeit bestätigt; die Trugbilder sind wie die falschen Bewerber, die auf einer Ungleichartigkeit beruhen, die eine wesentliche Perversion, eine Umlenkung implizieren. In diesem Sinne zweiteilt Platon den Bereich der Bilderidole: einerseits die Ebenbilder-Ikonen, andererseits die Trugbilder-Phantasmen (siehe dazu Sophistes, 235b – 236d).
(Deleuze, 314)
Die Ebenbilder-Ikonen sind mit Ähnlichkeiten zu den Urbildern ausgestattete Bilder, die in gewisser Weise richtiges Wissen beinhalten können, wohingegen die Trugbilder ohne Ähnlichkeiten sind. Schrift ist für Platon immer ein Abbild der lebendigen gesprochenen Rede und somit dieser nachgeordnet (mit Ausnahme der Dichtung). Das gesprochene Wort teilt er in die Dialektik, also den verständigen Dialog (den Plato selbst immer anwendet) und die Rede. Innerhalb dieser gibt es die brillante sophistische Rede, die nicht nach fragt, worüber sie spricht, also die Wahrheit, sondern ausschließlich danach, wie sie wirkt. Nicht zuletzt deshalb waren die Sophisten vor Gericht gefragte Verteidiger.
Schrift und Bild stehen dazu in einer ähnlichen mehrschichtigen Abbildungsfunktion. Die Schrift bezieht sich auf die Rede und diese wiederum idealerweise auf die Wahrheit. Diese Wahrheit ist identifizierbar mit den Urbildern, also mit dem Guten, der Gerechtigkeit, dem Schönen…, also letztlich mit den „Ideen“. Da sowohl den Urbildern wie auch den Ideen keinerlei sinnliche, sondern höchstens intelligible Eigenschaften zukommen, ist auch die wahre, lebendige Rede „nur“ ein Abbild jener rein geistigen Qualitäten. Immerhin kann sie „kunstgerecht“ betrieben werden. „Kunst“ heißt im Griechischen „techne“ und bedeutet im Gegensatz zu unserem Verständnis hauptsächlich Kunst als adäquate Fähigkeit, Kenntnis, Leistung.
„Doch sollte, wer etwas kunstgerecht betreibt, nicht einem Blinden oder Tauben ähneln. Vielmehr ist klar, dass wer immer einem anderen kunstgerecht Reden beibringt, genauestens die wahre Natur dessen zeigen wird, an das die Reden gerichtet werden sollen. Das aber ist doch wohl die Seele.“ (270e) Die gute Rede ist vergleichbar mit einem guten Arzt, der seine „Mittel“ (pharmaka) nicht dazu einsetzt, „nach Belieben im Körper Kälte oder Wärme, Durchfall oder Erbrechen zu erzeugen (268b). Am Beispiel von Platons Mythos vom ägyptischen Gott Theuth und seiner zwiespältigen Erfindung der Schrift zeigt Derrida, dass die nicht falsche Übersetzung von pharmakon als „Mittel“ die für das Verständnis der „Textur des Textes“ (Derr 71) wichtige ambivalente Bedeutung dieses hier zentralen Begriffs als Heilmittel und Arznei einerseits und als Gift und Droge andererseits verschwinden lässt. Abgesehen davon, dass die diversen Mittel der Menschen für ihre „künstlichen Paradiese“ notwendigerweise immer schon, je nach Dosierung, sowohl Gifte wie auch Heilmittel sind, halten wir mit Derrida fest, dass kein pharmakon harmlos und einfach nur wohltuend ist. Erinnern wir uns: Der Gottkönig Thamos erhält von Theuth, nach Derrida vergleichbar mit Hermes, eine Gabe, nämlich die Buchstaben, die, ähnlich wie die Gabe in archaischen Gesellschaften, zwiespältig ist – der Marcel Mauss eine berühmte Untersuchung gewidmet hat (die wiederum Derrida als Anlass für sein Buch „Falschgeld“ nimmt), in der er die Gabe mit dem englischen gift in Verbindung bringt: also Geschenk und „Gift“ zu sein. Auftritt Thamos:
Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel (pharmakon) nicht für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen. (275a)
Damit scheint Platon die Schrift eindeutig als Übel zu kennzeichnen, übrigens mit durchaus moderner Relevanz, wenn man die Klagen über zunehmende Konzentrations- und Gedächtnisschwäche heranzieht. Auch wenn man nicht in den Fehler verfallen will, Platons Abwertung der Schrift selbst abzuwerten, sollte man in Hinsicht auf eine offene Deutung der platonischen Schriften und Platons eigene Sicht der Schrift als eines Organismus „den Fall der Schrift als schwerwiegend“ ansehen.
Platon denkt laut Derrida in Oppositionen, in gegensätzlichen Werten (Derr 115): gut/schlecht, wahr/falsch, Wesen/Schein, drinnen/draußen etc. Derrida sieht nun die Leistung des platonischen Schriftbegriffs darin, außerhalb dieser Wertedifferenz zu sein und gerade deshalb sie zu verkörpern – als „wahres Trugbild“:
käme man schließlich auf den Gedanken, dass die Schrift als pharmakon sich nicht einfach einen Platz zuweisen lässt, einen situs, innerhalb dessen, was sie situiert, sich nicht unter die Begriffe subsumieren lässt, die von ihr her entschieden werden, der Logik, die sie nur beherrschen wollen kann, indem sie selbst noch aus ihr hervorgeht, bloß ihr Phantom überlässt, es wären merkwürdige Begegnungen, worunter man zu beugen hätte, was man nicht einmal mehr schlichtweg Logik oder Diskurs nennen könnte. Um so mehr, als sich das, was wir gerade unvorsichtig Phantom genannt haben, nicht mehr, mit derselben Sicherheit, von der Wahrheit, der Wirklichkeit, dem lebendigen Leib etc. unterschieden werden kann.
Versuchen wir noch einmal die Schichtungen der Schrift in ihren unterschiedlichen Entfernungen zur Wahrheit zu entfalten: König Thamos unterscheidet ausdrücklich zwischen dem Gedächtnis (mneme) und der Erinnerung (hypomnesis) und unterstellt der Schrift, eben kein Mittel (pharmakon) für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung zu sein und somit „kein wirkliches Wissen zu vermitteln, sondern den Schein davon“. Laut Derrida „träumt“ (der Traum ist auch ein, besonders in der Antike wichtiges Medium nicht nur der Erinnerung, sondern auch der Weissagung der Zukunft) Platon von einem „unendlichen Gedächtnis“, von einem „Gedächtnis ohne Zeichen“, von einer „mneme ohne hypomnesis, ohne pharmakon (Schrift). (Derr 121f) Abgesehen davon, dass ein unendliches Gedächtnis „reine Selbstgegenwärtigkeit“ wäre, das Gedächtnis also notwendig Zeichen braucht, um sich des Nicht-Gegenwärtigen zu erinnern (auch Bilder unterliegen nach Platon denselben fatalen trügerischen Mechanismen), kritisiere Platon an der Schrift „die Vertretung des lebendigen Gedächtnisses durch eine Gedächtnishilfe, des Organs durch die Prothese, die Perversion, die darin besteht, dass ein Glied durch ein Ding ersetzt, dass hier die aktive Wiederbelebung des Wissens, seine gegenwärtige Reproduktion durch eine mechanische und passive „Auswendigkeit“ vertreten wird“. Damit komme es zu einer sterilen, leblosen, doublierenden Wiederholung gegenüber einer lebendigen, leibhaftigen Wiederholung. Das Gefährliche des ersten Falls bestehe weniger in seiner Scheinhaftigkeit, sondern in seiner Schaffung eines zauberischen Trugbildes (phantasma), das nicht nur dem Menschen etwas Trügerisches, Verführerisches vorgaukelt, sondern das auch ein „debil machendes Gift für das Gedächtnis“ ist.
Allerdings werde damit die Grenze zwischen „der Sophistik, der Hypomnesie, der Schrift“ und „der Philosophie, der Dialektik, der Anamnese (Wiedererinnerung) und dem lebendigen gesprochenen Wort unsichtbar, beinahe nichtig“:
Auf der einen wie auf der anderen Seit geht es um Wiederholung. Das lebendige Gedächtnis wiederholt die Gegenwärtigkeit des eidos und die Wahrheit ist so die Möglichkeit der Wiederholung im Rückruf. Die Wahrheit entschleiert das eidos oder das ontos on, das heißt das, was in seiner Identität nachgeahmt, reproduziert, wiederholt werden kann. In der anamnestischen Bewegung der Wahrheit indes muss sich das, was wiederholt wird, in der Wiederholung als solches darstellen, als das, was es ist. (Derr 124)
Wenn man ein ewiges unwandelbares Eidos (Urbild, Idee) annimmt, dann kann jede noch so perfekte Repräsentation desselben immer nur mangelhaft, mit Einschränkungen sein, sonst wäre es das Urbild selbst, was unmöglich ist, da es als Urbild nicht repräsentierbar ist. Die Repräsentation, das Zeichen, das Bild, die Schrift ist also immer in Gefahr, trügerisch, scheinhaft, eben ein Trugbild, ein Simulakrum, ein phantasma zu werden. Umgekehrt kann das Simulakrum immer auch durch ein entsprechendes Heilmittel, eben das gute pharmakon wieder sich der Wahrheit, dem Urbild nähern.
Wenn man die Verbindung zum Urbild kappt, indem man dieses selbst zum Trugbild, zur Fiktion erklärt, dann muss notwendigerweise auch das negativ gefasste Trugbild verschwinden, da es kein Pendant mehr hat; es sei denn, man begreift das Trugbild, das Simulakrum als „einen fiktionalen Gegenstand, der nichts abbildet, sondern einfach existiert.“ (Stoichita, Der Pygmalion-Effekt, S. 211). Diese für die Moderne kennzeichnende radikale Autonomieerklärung insbesondere der Kunst tendiert jedoch zu einer Fetischisierung. Am Beispiel des Schönen wäre eine neue Dialektik von Abbildung und Ikone zu entfalten, die am Paradigma des Werdens sich zu orientieren hätte.
(2013)
Literatur:
Platon, Phaidros
Platon, Sophistes
Jacques Derrida, Platons Pharmazie, in: J.D. Dissemination, Wien 1995
Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt 1993
Josef Pieper, Begeisterung und göttlicher Wahnsinn, München 1962
Marcel Mauss, Die Gabe, Frankfurt 1990
Victor I. Stoichita, Der Pygmalion-Effekt, München 2011