Die Collage „Verschung 01“ wirkt wie ein abrupt unterbrochener Traum: Ein älterer Eremit – eine Neuinterpretation des heiligen Antonius – schreitet durch eine fantastische, farbsatte Welt aus Cartoonwesen, dämonisch anmutenden Gestalten und funkelnden Symbolen. Doch mitten in diese Szene schneidet sich eine zweite andere Bildebene: abgerissene Zeitungsfragmente, grobe Farbfelder, abstrakte Linien, ein mäandernder blauer Streifen, der wie ein grafisches Gitter durch die Figuren hindurchläuft. Das Bild wirkt gespalten, perforiert, collagiert.
Gerade in dieser ästhetischen "Verwundung" aktualisiert die Collage jene tiefgreifende Verschiebung, die Michel Foucault in seiner Lektüre von Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius" als Signum der modernen Episteme beschreibt: den Zusammenbruch der Repräsentation, die Entfesselung der Zeichen, die "Entpersönlichung" des Subjekts und das Auftauchen eines „Draußen“, das alle Ordnungen bricht.
Foucault versteht Flauberts Versuchung als „Revue des Wissens“, ein Nebeneinander historischer Diskurse, die ihre kohärente Ordnung verloren haben. „Verschung 01“
führt dieses Motiv nicht nur fort – die Collageform radikalisiert es. Denn der Bildraum ist kein homogener Schauplatz mehr.
Er ist zerrissen.
Die Pop-Fantasiewelt mit ihren märchenhaften Kreaturen und glänzenden Schatzkisten bildet einen zusammenhängenden visuellen Kosmos. Doch in ihn brechen brutale Texturen und zerschnittene Fragmente ein – wie Störungen eines ganz anderen Mediums, eines anderen Diskurses, einer fremden Sphäre.
Gerade durch diesen Zusammenprall entsteht ein Gefühl der epistemischen Entfesselung, das Foucault bei Flaubert beschreibt:
Wissensformen, Stile und Ebenen überlagern sich ohne Hierarchie und ohne gemeinsame Grammatik.
Die Versuchung des modernen Subjekts besteht nicht mehr in der Entscheidung zwischen Gott und Teufel (was zuweilen durchaus schwierig war) – sie besteht in der unendlichen Gleichzeitigkeit inkompatibler Bildwelten.
Die fantastische Szenerie der unteren Bildhälfte – der Wanderer mit Stab, die glänzenden Sterne, die großen Kinderaugen der Kreaturen, die große Gesichts-Erscheinung rechts oben (Gott?) – stellt keine „heilige Geschichte“ dar - verweist aber darauf. Sie repräsentiert sie nicht mehr. Sie produziert eine Welt, die durch ihre eigene Bildlogik existiert.
Die darübergelegten Collage-Elemente heben die Illusion eines durchgehenden Raums auf. Die Zeichen stehen nicht mehr im Dienst der Darstellung, sie werden zu souveränen Akteuren.
Foucault beschreibt bei Flaubert den Moment, in dem sich die Sprache selbst schreibt, ohne auf eine externe Welt zu verweisen. „Verschung 01“ zeigt dieselbe Bewegung – auf der Ebene des Bildes.
Die Collage ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Ort, an dem Zeichen sich gegenseitig erzeugen, stören, überlagern.
Das Subjekt im Schnittpunkt der Schichten
Die Figur in der Mitte – der moderne Antonius – verliert in dieser Bildwelt jede stabile Position. Ursprünglich war er Zeuge eines überbordenden Kosmos der Versuchungen. In der Collage wird er darüber hinaus zum Opfer einer äußeren Intervention: Er wird teilweise überdeckt, fragmentiert und grafisch durchkreuzt.
Dieser Eingriff ist mehr als ein Stilmittel:
Er zeigt das Subjekt als Ort der Kollision zwischen Fantasie und Realität, zwischen semantischer Überfülle und abstrakter Materialität. Antonius wird nicht mehr nur von Visionen bedrängt; er wird
überschrieben, überblendet, zerrissen.
Und genau darin liegt seine Modernität: Das Bild wird nicht als organisches Ganzes gegeben, sondern als Schauplatz einer ständigen De- und Rekonstruktion.
Die Versuchung ist nicht mehr moralisch.
Sie ist nicht religiös.
Sie besteht nicht in Verführungs-Versuchen eines Teufels, sondern im Übermaß an Bildschichten, Zeichen, Sinnangeboten.
„Verschung 01“ zeigt die Versuchung als ästhetisches Feld, als Überladung, als Überforderung.
Antonius muss nicht zwischen Gut und Böse wählen – er muss in einer Welt bestehen, in der eine vorgegebene Ordnung selbst nicht mehr existiert, auch nicht ideell, "metaphysisch".
Damit ist die Collage nicht nur eine Neuinterpretation eines alten Motivs, sondern ein Kommentar zur visuellen Moderne im Sinne Foucaults:
Das Subjekt wird durch die Unendlichkeit der Erscheinungen versucht.
Foucault hat Flaubert als Autor einer Grenzerfahrung der Sprache gelesen.
„Verschung 01“ zeigt eine Grenzerfahrung des Bildes:
Die Fantasie kollidiert mit Materialität.
Die Figur wird fragmentiert.
Die Ordnung bricht in Schichten auseinander.
Und die Versuchung entsteht dort, wo das Subjekt den Sinn nicht mehr bändigen kann.
So wird die Collage zu einem visuellen Pendant der modernen Episteme – einer Episteme, die nicht mehr auf Wahrheit oder Repräsentation zielt, sondern auf das unendliche Spiel der Zeichen, die von uns selbst produziert werden - wie in meiner Kunst.