Ist doch Hades eins mit Dionysos, dem sie da toben und Fastnacht feiern!
Heraklit fr. 15
Dionysos ist der Gott, der erscheint. Seine Ankunft, seine Parusie kann man in den verschiedensten Gestalten und Masken verfolgen. So ist sein Kultbild oft eine Maske, die an Bäumen aufgehängt wird; er taucht als ein hölzernes Gesicht aus dem Meer auf; er erscheint als junges Mädchen, als Stier, als Löwe, als Leopard…Doch wie soll man ihn erkennen, seine Masken durchschauen, sein wahres Wesen realisieren? Und wenn unter der Maske wieder eine Maske zum Vorschein kommt?
Damit ist Dionysos paradigmatisch der Gott der Metamorphose, der unzähligen Verwandlungen der an Metamorphosen so reichen griechischen Götterwelt.
Dionysos ist ein Gott der Raserei, der „mania“, die epidemisch die Menschen befällt und in höchstem Masse ansteckend wirkt. Am bekanntesten sind die rasenden Mänaden, die in ihrer Ekstase in die wilde Natur ziehen, dort lebende Tiere – und sogar ihre eigenen Kinder – zerreißen und roh verschlingen.
Schreckliches widerfährt denjenigen, die ihn, den Vielgestaltigen, Proteushaften, Unfassbaren negieren, verleugnen, bekämpfen. Der erste auf der schwarzen Liste ist Lykurg, thrakischer König, „Fachmann auf dem Gebiet der Gottlosigkeit und jähzorniger Rohling“. Sein Kampf gegen Dionysos wird von diesem gegen ihn selbst gewendet: anstatt des dionysischen Rebstocks zerschmettert er seinen eigenen Sohn und wird schließlich in einer fernen wüsten Gebirgsgegend von wilden Pferden in Stücke gerissen. Ein weiterer seiner Rachefeldzüge ist durch Euripides in den „Bacchen“ unsterblich geworden:
„In Theben werden, von Kadmos (dem früheren König) bis hin zu Agaue, Befleckung und Vertreibung…in blutigen Lettern geschrieben. Theben, dessen Fluren Dionysos’ Geburt erleben, fühlt sich völlig frei, den Gott nicht zu erkennen…er trägt in seiner Heimatstadt die Maske des Fremden. Die königliche Familie in Theben, blind gegenüber dem Erweis seiner göttlichen Natur, „soll wohl spüren, dass sie noch nicht geweiht zu meinem Festesrausch“…Der Mord an Pentheus (dem König in den Bacchen), die Befleckung der Agaue, die Verbannung des Kadmos – all dies sind flammende und beispielhafte Zeichen von Gewalt, die in unvergesslicher Weise von seiner Göttlichkeit…seiner dionysischen Parusie…künden.“ schreibt Marcel Detienne.
Dionysos ist „der kommende Gott“:
"Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.
Drum! Und spotten des Spotts mag gern frohlockender Wahnsinn,
Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift.
Drum an den Isthmos komm! Dorthin wo das offene Meer rauscht
Am Parnass und der Schnee delphische Felsen umglänzt.
Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Kithärons,
Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo
Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos,
Dort kommt und zurück deutet der kommende Gott." (Friedrich Hölderlin, Brot und Wein)
Damit hat Friedrich Hölderlin in seiner großen Elegie „Brod und Wein“ die Ankunft des Dionysos angedeutet, „ein Ereignis, mit dem“ nach den Worten von Manfred Frank „in einer realen Zukunft zu rechnen ist“. In der ersten seiner „Vorlesungen zur Neuen Mythologie“ stellt Frank die allmähliche Verdrängung der olympischen griechischen Religion durch die Dionysos-Religion fest:
„Dionysos wurde der „oberste der Götter“, und auf verschlungenen Wegen sollten einige griechsche Gemeinden im göttlichen Kind der Krippe zu Bethlehem den vergeistigten Dionysos ihres Mythos wiedererkennen.“
Nirgendwo sonst werden die "Wilden Archäologien" der Moderne deutlicher.
Der „Gesamtcharakter der Welt“ ist laut Nietzsche Chaos.
Dies bedeutet nicht, dass die Welt komplett unorganisiert ist, „die Welt kann als vollständig ordnungslos und zugleich als hochgradig organisiert gedacht werden“. Zarathustra als ein weiterer Protagonist von Nietzsches avisierter neuer Dionysos-Religion, fordert geradezu: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“
Peter Sloterdijk hat diesem Nietzsche-Spruch eine Studie gewidmet. In ihr stellt er fest, dass in der Moderne „die Welt Versuch geworden ist. Wer nicht versucht hat, wird nicht zur Welt gekommen sein“. Das heißt aber auch: Wer sich Versuchungen nicht ausgesetzt hat, wird nicht zur Welt kommen.
Klage der Ariadne, 2024, High Quality Print auf Dibond, 105 x 70 cm
Gib Liebe mir – wer wärmt mich noch?
wer liebt mich noch?
Nietzsche, Klage der Ariadne
Tizians berühmtes Bild „Bacchus und Ariadne“ (siehe unten) zeigt den Moment, als die kretische Königstochter Ariadne ihrem Geliebten Theseus auf der griechischen Insel Naxos nachwinkt, der sie eben schnöde verlassen hat und dessen Segelboot man noch ganz links weit draußen auf dem offenen Meer sieht. Erst jetzt scheint sie einen wilden Festzug zu bemerken, der in das gesamte Bild einfällt mit dem jugendliche Gott Bacchus (Dionysos) und seinem Gefolge aus Satyrn und musizierenden Mänaden; nicht zu vergessen den kleinen Spaniel im Vordergrund. Der bärtige Satyr rechts ist von Tizian der hellenistischen lebensgroßen Laokoon-Gruppe entlehnt worden, die 1506 entdeckt und bewundert wurde.
Gotthold Ephraim Lessing war, wie viele andere auch, von der Gruppe so beeindruckt, dass er sie in seinem Essay „Über die Grenzen von Malerei und Poesie“ von 1766 beispielhaft erwähnte, um seine Theorie der Unvereinbarkeit von bildender Kunst und Literatur zu belegen – im Gegensatz zu Johann Joachim Winckelmann. Lessing ist damit ein früher Theoretiker des autonomen Kunstwerks gegenüber einer, wie man heute sagen würde, narrativen Theorie des Kunstwerks.
Nach der Legende warnte der trojanische Priester Laokoon seine Trojaner davor, das hölzerne Pferd, das die Griechen als scheinbares Friedensangebot vor den Toren Trojas zurückgelassen hatten, in die Stadt zu bringen.
Weil er gegen den Willen der Götter gehandelt hatte, die auf der Seite der Griechen standen, wurde Laokoon zusammen mit seinen zwei Söhnen von zwei riesigen Meerschlangen getötet. Die antike Skulpturen-Gruppe zeigt den Moment des Todeskampfes von Laokoon und ist heute als eines der Hauptwerke in den vatikanischen Museen in Rom zu bewundern.
Diesen agonalen Kampf deutet Tizians Figur in eine ekstatische Szenerie um, in der die Schlangen wie ein theatralisches Accessoir wirken. Die zwei Geparden, die den Festzug des Gottes ziehen und die im Mythos noch Tiger waren, verweisen auf die mythische Herkunft von Dionysos aus Indien. Zwischen Ariadne und Dionysos „funkt“ es - und hat bis zur Moderne viele Künstler, Dichter und Komponisten inspiriert, z.B. Richard Strauss für seine Oper „Ariadne auf Naxos“.
„Wir alle kennen das Vorspiel dieser Geschichte. Jene Erzählungen vom Labyrinth des Kreter-Königs Minos, der einer der Söhne des Zeus war, die der mit Europa hatte. - Kreta, das „Land im dunkelwogenden Meere"', wie es in der Odyssee heißt, wir erinnern uns, birgt düstere Erbschaft, rätselhafte Verhältnisse; alle dort würden lügen und - wen wundert's, dort ein Labyrinth zu finden.“ bemerkt dazu Steffen Dietsch.
Dionysos ist der Gott des Weines, der Ekstase, der Verwandlung und der Unordnung, ja des Chaos. Dionysische Eigenschaften beinhalten Emotionalität, Leidenschaft, Ekstase, und eine Verbindung zum Irrationalen und Unbewussten. In der Kunst und Kultur zeigt sich das Dionysische durch Ausdrucksformen, die versuchen, die Grenzen des Individuums zu überschreiten und eine tiefere, oft mystische Erfahrung der Einheit und des Verbundenseins mit dem Universum oder der Natur zu vermitteln. Das Dionysische ist demnach das Bereich des Exzesses, der Grenzüberschreitung und einer Tendenz zur Auflösung der individuellen Identität in eine Kontinuität des Seins im Gegensatz zur Diskontinuität der einzelnen Existenz.
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Der jugendliche Dionysos inmitten klappriger Knochengerüste, überwölbt von einem Putto?
Die Knochengerüste stammen vom Frührenaisance-Maler Luca Signorelli im Dom von Orvieto mit dem Thema der Auferstehung.
Dionysos war ursprünglich eine ländliche Fruchtbarkeitsgottheit, die den Ablauf des Jahres mit immer wiederkehrendem Wachstum der Natur und Ernte begleitete. Eine Erlösungsreligion wie im Christentum war dieser mythischen zyklischen Welt fremd. Es gab aber noch einen anderen Aspekt dieses vielgestaltigen Gottes, der auch ein Gott der Unterwelt war (siehe obiges Heraklit-Fragment) und der entsprechend der zyklisch aufblühenden und absterbenden Natur starb, um im Frühjahr wieder aufzuerstehen.
Hier deutet sich eine Ähnlichkeit mit Christus an, der ebenfalls starb, um wieder aufzuerstehen?
Könnte man die finale christliche Auferstehung "am Ende aller Tage" in einem ewigen Paradies nicht als eine Weiterentwicklung der für allen frühen Kulturen typischen zyklischen Welt sehen?