"Er weiß nicht, was er sieht; doch was er sieht, setzt ihn in Flammen. Und seine Augen reizt dasselbe Trugbild, das sie täuscht. Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild!
Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild." (Ovid, Metamorphosen)
Einerseits lauert für Narziss in seinem Erkennen des eigenen Spiegelbildes die tödliche Gefahr, andererseits kann er vermittels des Eros, der auf sein Selbst gerichtet ist, nicht erkennen, dass das Objekt seiner amour fou nur er selbst ist.
Ist Narziss ein Egoist? Doch welcher Egoist würde sich in einer abgöttischen verrückten Liebe zu sich selbst in den Tod treiben lassen, also zur Auflösung des Ego?
Narziss spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte der abendländischen Subjektivität, die, wie Julia Kristeva ausführt, „in der Hypostasierung der Abbildfunktion besteht und in seinem narzistischen Scheitern, der den Impuls für die Verinnerlichung des Abbildes und die Umwandlung der platonischen Idealität in die spekulative Innerlichkeit gab... ein in sich selbst Verliebter, weder Dionysos noch Christus, aber tragisch und unsterblich durch seine Verwandlung in eine Blume"
(Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe).
Wie Ovid in seinen Metamorphosen berichtet, verweigerte Narziss sich jeglicher Kommunikation und vertiefte sich so intensiv in sein Spiegelbild „auf silberglänzendem Wasser eines klaren Quells“, dass er schließlich daran zugrunde ging, nicht ohne einer bestimmten Sorte Frühlingsblumen, die wir sehr schätzen, seinen Namen zu hinterlassen. Nur die Nymphe Echo durfte sich ihm zu Lebzeiten nähern. Allerdings konnte sie keinen Dialog führen, sondern musste immer die letzten Worte der Sätze, die Narziss sprach, wiederholen.
Ovid spricht hier etwas an, was als allgemeinste Bestimmung des Bildes gelten kann, etwas erscheinen zu lassen, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Trotz seiner permanenten introspektiven Grübelei erkennt er nicht, dass das erotisch faszinierende Bild sein eigenes Abbild ist.
Stattdessen, schreibt Julia Kristeva, sollte er „zum grundlegenden Topos eines Denkens werden, das sich von der antiken Philosophie löst…Die hermetische Literatur sowie die Gnostiker werden die Sinneswelt für das Resultat eines gewissermaßen narzisstischen Vergehens halten, insofern der archetypische Mensch für sein eigenes Abbild entbrennt, das jedoch nur das Resultat eines Sündenfalls ist“.