Knabe

 

„Das Leben ist ein spielender Knabe, ein Brettspiel spielend. Des Knaben (ist das) Königreich.“ (fr 87)  Damit hat Heraklit, allerdings erst in der Diktion des jungen Nietzsche, nichts weniger als „die postmoderne Spitze der Modernität in Sachen Ästhetik“ (Günter Wohlfart) vorweggenommen.

Nietzsche spricht in einem frühen Fragment in Bezug auf das Denken Heraklits und im Besonderen auf das „spielende Weltkind“:

„Das ewig lebende Feuer…spielt, baut auf und zerstört…jenes Gegeneinander ist nur als künstlerisches Phänomen zu fassen. Es ist eine rein ästhetische Weltbetrachtung.

Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an…

So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.“ (KSA 1, 830f)

Nietzsches Pointe liegt darin, dass er das Weltspiel nicht kosmologisch-mythisch, sondern ästhetisch interpretiert. Man hat dagegen eingewandt, dass „der spielende Künstler eine Erfindung der modernen Zeit sei“ und wollte damit unterschwellig das Unstatthafte eines Vorgehens andeuten, das die Gegenwart nicht aus der Vergangenheit deutet, sondern umgekehrt, die Vergangenheit aus der Gegenwart.

Demgegenüber hat Benjamin in einer seiner letzten Schriften, den Aphorismen „Über den Begriff der Geschichte“ angedeutet, dass, wenn wir das „Bild vom Glück, das wir hegen“ verfolgen – und was macht die Kunst anderes, als eben dieses Bild vom Glück zu gestalten – wir unweigerlich auf die geschichtliche Zeit verwiesen sind. Damit „schwinge in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“. (Ben Gesch II):

„Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird…Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann ist uns, wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben.“

Unter dieser Optik kann es bei der Artikulation der historischen Vergangenheit nicht darum gehen, zu erkennen, „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Stattdessen „heißt es, sich einer Erinnerung bemächtigen“. Damit wird das Bemühen um historische „Wahrheit“ keineswegs entwertet; ganz im Gegenteil kommt ihm eine enorme Bedeutung zu, da nur unter dieser Voraussetzung die Methode der Profanierung im Sinne Agambens möglich ist. Natürlich gibt es Profanierung schon von Anfang an, etwa in der griechischen Tragödie, wenn sich die Götter von Aischylos bei Euripides zu fast normalen Menschen wandeln oder wenn zu Beginn der Neuzeit im 16. und 17. Jh. eine Naturgeschichte gleichermaßen natürliche Lebewesen und mythische Fabeltieren umfasst oder wenn, wie in der Renaissance, das religiöse Geschehen plötzlich in einer „richtigen“ Landschaft oder einer historischen Stadtarchitektur spielt: immer geht es um einen freien profanen Gebrauch ehemals mythologischer oder religiös-christlicher Gehalte, ohne diese in toto zu negieren oder gar zu zerstören.

Profanierung ist also immer ein synkretistischer Vorgang. Was profaniert wird, erscheint weiter – nur in anderen Zusammenhängen. Profanierung grenzt nicht aus (die Grundvoraussetzung jedes Heiligen – so heißt der heilige griechische Tempelbezirk „temenos“ = das Abgegrenzte, Abgeschnittene), sondern fügt zusammen. Und in diesem Sinne ist Profanierung als Welt-Technik ein spezifisch modernes Verfahren – und ein radikal utopisches dazu.

Allerdings ist Profanierung nachhaltig und in gewisser Weise sogar radikal und damit das Gegenteil der schlechten Kittung einer ausgedünnten Religion mit flauen pseudo-philosophischen Sprüchen…

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