Gemälde 2000 (großes Format)

alle: 200 x 160 cm, Öl/Lweinwand

Carla, 1996, Öl auf Leinwand, 200 x 160 cm

Text: Pravu Mazumdar

 

Aus der blauen Tiefe des Schädels steigt CARLA empor, die silbernen Haare hochgesteckt, die Augenlieder geschlossen. Wie Helena löst sie sich von dem brodelnden Gemisch aus Nacht und Feuer und steigt in eine Höhe, von der aus sie das Eis ihrer Ruhe und Sichtbarkeit spendet. Noch haftet an ihrem Hals das Blau jener Nacht und an den Schultern das Orange jenes Feuerstreifens, aus denen sie eben aufgetaucht ist. Mit dem ganzen Arsenal ihrer Anmut, der kühlen, hohen Stirn, dem vornehmen Hinterhaupt, der zum Relief ausgeformten Ohrmuschel, den langen Wimpern, die sich über das knospende Augenlicht schließen, dem empfindlichen Nasenflügel, dem träumenden Mund, der nie zum Küssen, sondern zum Verkünden leiser, schrecklicher Wahrheiten sich wölben wird, erscheint sie als die unmögliche Tochter jener Hölle, aus der sie hervorging, jener Todeskälte und jenes flammenden Orange, aus denen heraus sie in ihre Ruhe gegossen wurde: eine Fiktion aus Silber, blicklos, noch ungeboren.

 

Werden sich diese Augen jemals öffnen? Oder sind sie nur dazu da, immerfort die Augen des Betrachters aufzuschließen?

 

Mit ihrer hoheitsvollen Aufrichtung, mit der die die Bildfläche beherrschende Vertikale aufleuchtet, verbindet sie das Feuer unten mit dem Eis oben, scheint gar aus beiden entstanden zu sein, scheint Gradstufen der Abkühlung zu überspannen. Durch ihre eisige Aura hindurch, die sich mit den Feuertönen von unten vermischt, wendet sich ihr blickloses Gesicht einem Blau zu, das ein Bruchstück derselben Nacht zu sein scheint, aus der heraus sie in ihre Eis-und-Feuer-Helle geschickt wurde: endlose Gegenwart der Nacht. Das Feuer aber, das sie geformt hat, will die Nacht verschlingen, durchtrennt das Blau vorne von dem dunklen Untergrund des Schädels, es ist ein kritischer Augenblick im ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis. Das Feuer verbreitert sich, erobert beinahe die ganze obere Hälfte des ihr gegenüberliegenden Bildrandes, aus seiner lohenden Helle scheint der Umriss eines athletischen männlichen Körpers aus Rücken-Hintern-Schenkeln auf, nach oben in die blaue Nacht ragend.

Dem blicklosen Gesicht der Frau sieht ein kraftstrotzender männlicher Rücken entgegen. Im Dreieck zwischen Frau, Mann und Totenschädel organisiert sich die Welt des Bildes.

 

Somit besteht das Bild aus fünf Feldern: dem Feuerstreifen, dem Blau oben, dem Schädelgrund, der vom Feurigen ins Eisige emporschwebenden Frau, dem aus dem Feuer tauchenden männlichen Rücken. Man denkt unweigerlich an die fünf Elemente, unter Verkehrung ihrer antiken Raumzuteilung: die schwarze Schädelerde, das orangene Feuer, das wasserhaltige Eis, in ein durchsichtiges und luftartiges Weiß übergehend, und schließlich der blaue Äther. Die feurig-eisig-nächtige Welt Heeres findet sich aus Elementen collagiert.

Aber es handelt sich um eine „Collage“, in der die Feldränder keinen geometrischen Gesetzen mehr gehorchen. Das Bild kocht gleichsam über, die Felder fluten ineinander, und anstelle der linienartigen Ränder erscheinen Landschaften aus Fransen, Pinselstrichen, Schraffuren. In diesen Malereien Heeres geraten seine früheren Collagen – all diese Bildteppiche und lotrechten „Triptychen“ aus lauter viereckigen Fenstern, die auf eine vorbeihuschende und -rückende Welt hin sich öffnen - in eine eigenartige Wallung.

 

Man muß die „Triptychen“ als das erste Stadium eines Collage-Spiels betrachten. Sie zeigen in drei übereinandergeschichteten Feldern den gleichen Gegenstand, jedoch mit einer Phasenverschiebung. (Beispiele: DOREE oder LOULOU II) Hier hat die Bühne des Bildes die traditionelle aristotelische Einheit verloren, hat sich serialisiert. Drei Flächen in einer Fläche, plus zwei ruckartige Bewegungen im Bildgehalt: das ist nunmehr das Bild. Jede Fläche wiederholt den gleichen Gegenstand, jedoch nicht mit der starren Ununterscheidbarkeit der klassischen Serienkunst. Die Wiederholung, dieses „Wesen“ des modernen Bildes, wird von einer wellenartigen Oberfläche aus Phasenverschiebungen überzogen. Sie maskiert sich gleichsam mit der Aura der Differenzen. Deshalb kann hier, im Anschluß an Benjamins Analysen, durchaus von einer eigentümlichen Re-Auratisierung des Bildes die Rede sein, das heißt aber auch von einer Wiederkehr von so etwas wie Transzendenz.

 

Wie winzige Filmstreifen, die gegen die Kontinuität von Bewegung montiert wurden, wirken diese Triptychen, wie Ruck-Bilder oder Zeitfragmente und Zeitpfeile, von denen der Raum ihrer Zusammen- und Ausstellung ins Schwirren geraten muss. Doch zeigen die Pfeile auf keinen Gegenstand, zeigen auf kein Ding oder Ideal. Sie offenbaren letztlich nur den leeren Bildrahmen und deuten, während die Welt am Bild vorbeirückt, auf die Höhe und Transzendenz des Nichts. Der Blick, der sich in seiner traditionellen auratischen Erwartung an das Bild schmiegt, findet nichts, an dem er haften kann, er gerät in eine fallende Bewegung, die ihn durch die Krisen des Rucks bis zum Boden des Titelwortes führt. Die Vertikalität des Falls behält ihre strukturierende Kraft in den späteren Stadien des Spiels: bei CARLA transformiert sie sich in die Vertikalität des Aufstiegs.

 

Zum zweiten Stadium des Collage-Spiels von Heere gehören die größeren Arbeiten wie die der Serie WORLD. Diese sind hauptsächlich aus Dreiheiten zusammengesetzte Ordnungen von Bildfeldern, komplizierte Sehmaschinen, in denen die Triptychen als elementare Einheiten figurieren, Module gleichsam, aus denen die Maschinen montiert sind. Es sind Maschinen, die einen bebenden und gerasterten Blick auf das Universum des Fleisches gewähren. Das Fleisch, dem die Griechen zu einer tragisch-durchlässigen Form verhelfen wollten, das Paulus zur Quelle des sündigen Geheimnisses des Menschen machen und de Sade quälen und zum Schreien bringen wollte, das Freud und die Surrealisten befreien wollten, dieses Fleisch explodiert hier gleichsam und durchdringt mit seinen Strahlen das Gitterwerk der Collagen.

 

Heeres Arbeit spielt mit den Möglichkeiten des Bildes im Zeitalter seiner „technischen Reproduzierbarkeit“. Der Blick irrt von einem Bildfeld zum anderen, durch den Irrgarten der Grenzlinien zwischen den Feldern hindurch, und umfasst in jedem Feld die Gestalt des Schönen, nicht in seiner originären Einmaligkeit, sondern im Element der Wiederholung, der ver-rückten Wiederholung. Jedes Feld wiederholt ein anderes, aber anders, von einem anderen Aspekt her, und die Aneinanderreihung der Felder lässt die ruckartige Bewegung des Bildgehaltes sichtbar werden. Das Bildfeld erscheint als Fensterrahmen, an dem die Welt vorbei-rückt. Darin bekundet sich ein eigentümliches Verhältnis von Welt und Bild. Das Bild offenbart nicht mehr die wahre und wesenhafte Welt, sondern die Welt als ruckartiges Ereignis von Auftauchen und Verschwinden.

 

Das schicksalhafte Bündnis von Welt und Bild, die spezifischen Formen ihrer Koexistenz, waren konstitutiv für die verschiedenen Epochen der abendländischen Kulturgeschichte. Sobald aber die Welt nicht mehr Schöpfung eines unendlichen und transzendenten Gottes ist, sobald das Verhältnis zwischen Zufall und Notwendigkeit im Weltgeschehen sich umkehrt und Inseln der Notwendigkeit und Vernünftigkeit fortan aus der unendlichen Demiurgie des Zufalls hervorgehen, den griechischen Göttern gleich, mit ihren begrenzten und unberechenbaren Zuständigkeiten, stiehlt sich der Zufall in das Bildgeschehen ein. Das Band zwischen Bild und Welt ist kein notwendiges mehr, im Idealfall von Wahrheit durchtränkt, sondern ein schwankender, vielsträhniger, labyrinthischer Raum. Das besagt das Ende der Epoche der Repräsentation und des ikonischen Realismus, denn es ist nicht mehr eine wahre und wesenhafte Welt, die die Hand des Künstlers führt, sondern der Zufall als Überfluß und Überschreitung der Ordnung des Notwendigen. Es handelt sich damit um eine fundamentale Verwandlung des Bildes selbst.

 

Der wesentlichste Schritt dieser Verwandlung: die Fläche des Bildes verliert ihre traditionelle Einheit. Dieser Verlust signalisiert das Ende einer alten und sehr mächtigen Metaphysik. Die vielen Götter ziehen in das Bild ein, das damit zu einem komplexen und bewegten Zusammenhang aus Bildern wird. In der Abwesenheit Gottes meldet sich ein fröhliches Gewimmel der Götter, die Welt verwandelt sich in eine wesentlich unsichtbare Vielzahl der Universen, die Seele ist, in Nietzsches Worten, ein Gesellschaftsbau der Seelen, ebenfalls ist das Bild ein Gesellschaftsbau der Bilder. Das neue Bild ist ein Labyrinth aus Bildern.

 

Man muß die großen Fotocollagen Heeres in diesem Zusammenhang sehen: als Vorrichtungen zum Einfangen und Irreführen des Blickes, labyrinthische Zusammenhänge aus winzigen lotrechten Ruck-Bildern, aus deren Anordnung die Vertikale als Leit- und Orientierungsachse hervorgeht. In CARLA geschieht ein Übergang von der Fotografie zur Malerei unter Beibehaltung der eigentümlichen Kraft der Vertikalität, deren Bewegungsart jedoch nicht so sehr der Malerei wie der Bildhauerei angehört.

Die Bildhauerei umfaßt die Bewegungen von Auftauchen und Verschwinden, Geburt und Tod, und jenen archaischen Vorgang, der sich in der griechischen Tragödie durchsetzt: die Bewegung des Aufstiegs bis zur schwindelerregenden Höhe eines Scheitelpunktes und danach der Taumel des Sturzes. Diese tragische Vertikalität ist konstitutiv für die Grundbewegung der Bildhauerei: den unerschrockenen Ausgang aus der erdhaft-bergenden Tiefe des Materials, auf das Licht und die Höhe der plastischen Sichtbarkeit hin. Schon aus physikalischen und nicht bloß ästhetischen Gründen muß die Bildhauerei tragisches Maß halten. Sie muß die Gesetze von Erde und Materialität beachten, sich nicht zu weit von diesen in die entmaterialisierte Höhe der Form entfernen. Sonst stürzt das plastische Gebilde wie Ikarus zurück in die amorphe Materialität. Die Bewegung der Bildhauerei ist eine wesentlich platonische Bewegung des Aufstiegs und Rückstiegs zwischen der Höhle des Materials und der Sonne der Sichtbarkeit der plastischen Formen.

 

Dagegen geht die Malerei aus der wesentlich lyrischen Bewegung zwischen den Werten Hell und Dunkel hervor. Aus dem Kontrast von Nacht und Feuer lässt sie die Helligkeit der malerischen Formen hervortreten. Von ihrer Tendenz her läßt sie also eine Gestalt erscheinen. Die Skulptur dagegen lässt nicht nur eine Gestalt, sondern zudem noch ein Kraftfeld, das Feld der tragisch-existentiellen Schwerkraft, in Erscheinung treten.

 

Damit erscheint der Aufstieg und die Plastizität des weiblichen Profils in CARLA als die malerische Darstellung der Grundbewegung der Bildhauerei. Aber woraus erwächst diese Bewegung auf der Bildfläche des Gemäldes? Aus den zwei Kräften oder Widerparten der Malerei: Nacht/Feuer – Hell/Dunkel – sichtbar/unsichtbar. Als eine erhabene Bildsäule steigt CARLA aus der Auseinandersetzung zwischen den zwei Polen der Malerei empor. Damit erscheint das Gemälde Heeres als ein eigenartig gedoppelter Chiasmus zwischen jeweils zwei Medien: der Fotografie und der Malerei einerseits, und der Malerei und der Bildhauerei andererseits.

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