Erlösung

Tief ist ihr Weh, 2010, High Quality Print auf Dibond, 100 x 70 cm

 

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„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösendeMensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vorder Wirklichkeit sei —: während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung indie Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an’s Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts — er muss einst kommen…“[1]

 

Nietzsches Diktum liest sich wie eine Auflistung seiner späten zentralen Ideen und Konzeptionen. Werner Stegmaier hat vorgeschlagen, die befremdliche Kennzeichnung des erlösenden Menschen „der grossen Liebe und Verachtung“ in Verbindung zum „Zarathustra“ zu bringen[3], der unschwer als Blaupause dieses kommenden „Antichristen und Antinihilisten“ zu erkennen ist. So lehrt Zarathustra in der Vorrede 3 den Übermenschen, „der der Sinn der Erde sei“und beschwört „seine Brüder: Bleibt der Erde treu“.[4] Die Seele nämlich habe einst den Leib „mager, grässlich, verhungert“ gewollt und sei dabei selber „mager, gräßlich und verhungert“ geworden. Zarathustra ist hier ein Sprachrohr Nietzsches, der die angebliche Leibfeindlichkeit des Christentums und der Metaphysik anprangerte. Daraus entsteht nach Zarathustra „die Stunde der großen Verachtung“, da die herkömmlichen Werte sich verkehren. Das Glück wird zum Ekel, ebenso die Vernunft, die Tugend, die Gerechtigkeit und das Mitleid. Doch der Übermensch ist wie ein Meer, das diesen schmutzigen Strom in sich aufmehmen kann, ohne selbst davon tangiert zu sein. Im Zarathustra 4 tritt der „hässlichste Mensch“ auf, der durch die Leiden an Körper und Seele sogar seinen Gott sterben lässt, „da der Mensch es nicht erträgt, dass ein solcher Zeuge lebt“.[5] Und dennoch: „Man sagt mir, daß der Mensch sich selber liebe: ach, wie groß muß diese Selber-Liebe sein! Wie viel Verachtung hat sie wider sich! Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete – ein großer Liebender ist er mir und ein großer Verächter.“

 

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Im Jahre 2000 fand in der Londoner National Gallery eine vielbeachtete Ausstellung statt mit dem Titel "Seeing Salvation, Images of Christ in Art", in die dort ausgestellten Werke nicht nur nach ihrem Kunstwert sondern auch nach ihrem Gebrauchswert, nämlich als Darstellungen christlicher Inhalte gewürdigt wurden.[6]

Nach Nietzsche waren es nicht die Aufklärer, die Gott getötet haben, sondern die Theologen selbst. Als letztes Opfer habe sich Gott selbst geopfert. 

Ein schwarzes Quadrat ist genauso fiktional wie etwa ein auferstandener Christus. Übrigens waren geometrische Formen seit den frühesten Zeiten menschlicher Bildproduktion immer bekannt. Sollte also die ganze Problematik der modernen Kunst nichts anderes als ein Wiederaufleben des Bilderstreits sein, wie er wohl noch unerbittlicher in den letzten Jahrhunderten des ersten nachchristlichen Jahrtausends im byzantinischen Reich tobte? Gegen diese vorsichtig ins Blaue hinein formulierte These lässt sich vieles vorbringen, nicht zuletzt die Tatsache, dass die hier ins Visier genommene abstrakte Kunst nur einen Teil der modernen Kunst darstellt; ein wesentlicher anderer Teil, die sogenannte surrealistische Kunst scheint ja eher das Gegenteil zu beweisen. Allerdings spricht das eher für meine These des Streits, wenn man sich die erbittert geführten Fehden zwischen den Lagern vor Augen führt, insbesondere die zwischen einem vorgeblich konservativen Realismus und einer ebenso vorgeblichen progressiven Abstraktheit. Um nicht wieder in ein längst überholtes Lagerdenken zu verfallen, könnte man bei der abstrakten Richtung von einer Kunst sprechen, die die Zeichenhaftigkeit betont, ähnlich jener, die in der Hauptkirche von Byzanz das Pantokrator Mosaik abkratzte und statt dessen ein eindrucksvolles Kreuz-Zeichen setzte.

 

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Wenn man einmal die Hypothese des Wiederauflebens des Bilderstreits in der Moderne akzeptiert, könnte man dann in der populären Bilderflut der Massenmedien eine Versöhnung zwischen beiden verfeindeten Lagern sehen? In gewisser Weise würde ich dieser These zustimmen, allerdings mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Letzteres deshalb, weil man einfach die Augen nicht vor tsunamihaften Flut des Schundes und des Mülls verschließen kann. Daneben stehen natürlich die unbestreitbaren optimalen Gestaltungen in Film. Videoclip, Werbung, fashion etc. an.

Der byzantinische Bilderstreit entzündete sich nicht an dem Problem des Bildes schlechthin; Ikonophile und Ikonoklasten waren sich  einig in ihrem Bemühen, den möglichst adäquaten Ausdruck für die Repräsentation Gottes zu finden.

 

Doch ist inzwischen klar, das der religiöse Impetus einer bestimmten abstrakten Kunst unübersehbar ist. Diesbezügliche Äußerungen von Künstlern wie Mark Rothko, Barnett Newman, aber auch Malewitsch und Mondrian belegen dies. Natürlich ist es jedem Betrachter z.B. eines späten Mondrian selbst überlassen, das Bild auf sich wirken zu lassen und sich Gedanken zu machen; Tatsache ist jedenfalls, dass Mondrian seinen ‚Neo-Plastizismus’ im Sinne eines kosmologischen Urbildes sah, wie sein diesbezügliches Beharren auf einer prästabilisierten Harmonie von Senkrechten, Waagrechten, den drei Grundfarben sowie Schwarz und Weiß zeigt.

Es gibt aber auch religiöse Tendenzen im Surrealismus, Expressionismus und Realismus. Man denke nur an die späten Werke Dalis wie seinen "Christus am Kreuz" oder die Kirchengestaltung von Matisse oder die zahlreichen religösen Bilder von Chagall.

Bei näherer Recherche zumindest der von den Künstlern selbst geäußerten Intentionen erweist sich also ein quasi-religiöser Fundus eines großen Teils der modernen Kunst gar nicht so weit hergeholt. Und ist nicht das Werk Warhols, des Vaters aller Pop-Art nicht eher von seiner obsessionellen Beschäftigung mit Religion und Tod zu verstehen als von seiner bei Theoretikern so beliebten semiologischen und strukturalistischen Phänomene?

 

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"Erlösung dem Erlöser“ Mit diesem berühmten Ausruf endet bekanntlich die letzte Oper Richard Wagners, der „Parzifal“. Ungeachtet der diversen Interpretationen habe ich mich dabei immer gefragt, ob es sich hier nicht einfach darum handelt, die extrem schwierige (und oft tödliche) Aufgabe des Erlösers sozusagen selbst einer gewissen Lösung und Er-lösung zuzuführen. Inwieweit dies auch fürdie Menge der Erlösten gilt, sie also einer doppelten Erlösung bedürfen, ist die Frage. Es steht weiterhin in Frage, ob wir überhaupteiner wie immer gearteten Erlösung bedürfen - und folglich auch einer Erlösung von der Erlösung?

Alles Fiktion?

Fiktionen sollen in den Blick genommen werden – und zwar aus der Sicht eines Künstlers. Dazu ist es notwendig, nicht nur die Fiktionen der Kunst, die immer auch trotz allem wahrheitsfähig erschienen, zu betrachten, sondern die fiktive Sicht zu erweitern. Als Künstler weiß man zur Genüge, dass die tägliche – und oft auch nächtliche – Arbeit an den diversen Fiktionen alles andere als fiktiv ist, was noch nichts über den Status dieser Arbeiten aussagt.

Dabei werde auch ich nicht eine definitive Lösung (bzw. Er-Lösung) vorschlagen können. Es ist allerdings meine Intention, in diesem Fall nicht das beliebte kulturelle Spiel zu wiederholen, das darin besteht, dass man ein Problem dadurch „löst“ (oder zu lösen versucht) dass man es einfach für nicht existent erklärt. Bei einer solchen „Problemlösung“ stellt sich dann meistens heraus, das man eine Fülle von recht unangenehmen Problemen bekommt, die, fies genug, an Stellen auftauchen, wo man sie weder erwartete noch wünschte.

 

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Unter den zeitgenössischen Philosophen erneuert Friedrich Nietzsche (1844–1900) den Gedanken einer zyklischen, stets gleich ablaufenden Weltperiode. Er begründet dies dadurch, dass die Welt weder ein Ziel noch ein Vermögen zur ewigen Neuheit hat. Deshalb wechseln sich immer in gleicher Reihenfolge die gleichen Dinge ab.

 

Aber warum sollen wir denn immer davon schweigen, dass ehemals das Göttliche das vornehmste Gestaltungsideal war? Auch wenn wir seit Nietzsche wissen, dass nicht die vernunftgeilen Aufklärer es waren, die Gott getötet haben, sondern die Theologen selbst, sozusagen als letztes Opfer opfert der Gott seine eigene Existenz, wie schimärisch diese immer gewesen sein mag und zieht sich ganz in die Nicht-Existenz zurück. Wie gut, dass es dafür schon seit langem den Begriff der Negativen Theologie gibt. Ich will damit nur andeuten, dass wir keine noch so subtilen ‚Mythen des Alltags’ brauchen, um einfach das Ende aller Mythen zu diagnostizieren. Vermutlich hat man sich noch nie so um den antiken Mythos bemüht wie in den letzten Jahrhunderten im Abendland (und davor natürlich auch). Man kann nur mit der gebührenden Ironie feststellen, dass je toter die Götter sind, um so mehr leben sie im Bild – oder, um einen zeitgenössischen Begriff zu gebrauchen – in der Fiktion. Unversehens, so scheint mir, haben wir einen wesentlichen Charakter des Bildes festgestellt: ein Bild stellt etwas dar, was es gar nicht gibt. Das haben die Künstler natürlich schon immer gewusst und vor allem die modernen. Aber ihre Rede von der eigenen Realität der Kunst hat ihre Tücken: es sind natürlich nicht nur die farbigen Flächen die die eigene Realität der Kunst bilden, sondern auch das ganze Chaos der Engel und Teufel, der Himmel und Höllen, kurz, das ganze überwunden geglaubte Universum der früheren Kunst war nichts anderes als eben – auch die eigene Realität der Kunst. Es gibt nun allerdings keine modernen Götter, es gibt nur die alten, die periodisch wiederkehren oder auch nicht.

Aber vielleicht wollen die Künstler ja gar nicht kreativ sein und überlassen dies arrogant den Betreibern der Kulturindustrie, wie weiland Barnett Newman, dem bei einem Louvre-Besuch nichts Besseres einfiel, als zu sagen, dies sei alles Hollywood. Aber hatte er nicht recht? Lassen sich die Hollywood-Regisseure nicht seit jeher von der bourgeoisen Kunst des 19. und 18. Jahrhunderts beeinflussen, die damit eine späte Rehabilitation erfahren hat.

 

Doch ist inzwischen klar, dass im Gegensatz zur früheren landläufigen Meinung der religiöse Impetus der abstrakten Kunst unübersehbar ist. Inzwischen haben diesbezügliche Ausstellungen, die das religiös Geistige insbesondere von Künstlern wie Mark Rothko, Barnett Newman, aber auch Malewitsch und Mondrian in den Vordergrund stellen, schon Tradition. Natürlich ist es jedem Betrachter z.B. eines späten Mondrian selbst überlassen, das Bild auf sich wirken zu lassen und sich Gedanken zu machen; Tatsache ist jedenfalls, dass Mondrian selbst seinen ‚Neo-Plastizismus’ im Sinne eines kosmologischen Urbildes sah. Sein diesbezügliches Beharren auf eine prägstabilisierte Harmonie von Senkrechten, Waagrechten, den drei Grundfarben sowie Schwarz und Weiß. Sollte ein kosmologisches Ur- und Abbild sein.

Bei näherer Recherche zumindest der von den Künstlern selbst geäußerten Intentionen erweist sich also ein quasi-religiöser Fundus eines großen Teils der modernen Kunst gar nicht so weit hergeholt. Und ist nicht das Werk Warhols, des Vaters aller Pop-Art nicht eher von seiner obsessionellen Beschäftigung mit Religion und Tod zu verstehen als von seiner bei Theoretikern so beliebten semiologischen und strukturalistischen Phänomene?

 


[1] Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral II, 24, KSA 5, S. 336

[3] Werner Stegmaier, Nietzsches „Gnealogie der Moral“, Darmstadt 1994, S. 166f

[4] Za I, Vorrede 3, KSA 

[5] Za IV, Der hässlichste Mensch

[6] Gabriele Finaldi/Neill MacGregor, The Image of Christ: Catalogue of the Exhibition "Seeing Salvation": The Catalogue of the Exhibition Seeing Salvation

Heribert Heere

KÜNSTLER

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